Ihre Perücke hat Brigitte gerade in die Handtasche gestopft. Die halblangen, blonden Haare sind für die Krebspatientin normalerweise ein Schutzschild. Nichts, das man einfach mal so ablegt. Schon gar nicht außerhalb der eigenen vier Wände. Doch an diesem Novembernachmittag ist der künstliche Blondschopf überflüssig, stören die Haarsträhnen beim Auftragen von Cremes und Make-up. Brigitte ist heute zum Kosmetik-Seminar ins integrative Krebsbehandlungs- und Forschungszentrum (Comprehensive Cancer Center Mainfranken) in die Würzburger Uni-Klinik gekommen. Sie will sich professionell zum Thema Make-up beraten lassen und selbst ausprobieren, welche Farbtöne zu ihr passen. Acht Handspiegel, acht Kosmetiktaschen und etliche Döschen sind auf dem großen Tisch in der Mitte verteilt, es duftet nach Kaffee und Schokolade, und Brigitte lauscht mit sechs weiteren Frauen den schrittweisen An- weisungen der ehrenamtlich arbeitenden selbstständigen Kosmetikerin Andrea Mager aus Waldbrunn im Landkreis Würzburg.
Die Kursleiterin hat nicht nur langjährige Erfahrung in ihrem Beruf, sie hat auch ein ausgeprägtes Gespür für Menschen, für ihre Sorgen und Nöte. Dass Brigitte ihre Perücke so schnell abgelegt hat, und der Raum von einer warmen Unbefangenheit durchflutet ist, ist kein Zufall. „Frau Mager leitet diese Kurse mit so viel Geschick und Herzlichkeit, dass man das Wohlbefinden der Frauen förmlich spüren kann“, sagt Nadine Schönig vom Comprehensive Cancer Center (CCC) und stellt eine Kanne mit frischem Kaffee auf den Tisch.
Das CCC bietet den kostenlosen Kosmetik-Kurs zusammen mit der bundesweit agierenden gemeinnützigen Gesellschaft DKMS life an. „Die Krebstherapie mit Chemo- und Strahlenbehandlung bietet die Chance auf Heilung, bringt aber gleichzeitig drastische Veränderungen des Aussehens mit sich“, erzählt Nadine Schönig. Haarausfall, der Verlust von Wimpern und Augenbrauen, sowie Narben nach Hautverletzungen gehören dazu. Der Kampf ums Überleben entwickelt sich auch zum täglichen Kampf mit dem Spiegelbild.
„Als Veranstalter der Kosmetik-Kurse wollen wir den Patientinnen dabei helfen, ihren Lebensmut zu stärken, den Heilungsprozess damit zu unterstützen“, sagt auch Anja Hockelmann, Pressereferentin von DKMS life. 1200 Seminare in über 250 Krankenhäusern, Krebsberatungsstellen, sozialen und medizinischen Einrichtungen organisiert die gemeinnützige Gesellschaft mit Sitz in Köln jährlich. Die Umsetzung vor Ort klappt reibungslos, so auch an diesem Nachmittag in Würzburg.
220 000 Frauen bekommen in Deutschland jährlich die Diagnose Krebs. Ruth ist eine von ihnen. Die Lehrerin wühlt gerade in ihrer von der DKMS kostenlos zur Verfügung gestellten Kosmetiktasche und findet auch, was sie sucht: die Tube mit der Tagescreme. Ruth schaut mit prüfendem Blick in den Handspiegel. Kosmetikerin An-drea Mager erklärt, worauf man beim Kauf von Cremes achten sollte. „Extrem fetthaltige Produkte oder Cremes mit Glycerin sind nicht geeignet, auch wenn man das zunächst bei sehr trockener Haut vermutet. Glycerin ist kein schlechter Stoff, aber es will Feuchtigkeit binden und holt sich die aus der Haut. Der Effekt: die Haut wird dadurch noch trockener.“
32 Gesichtsbestrahlungen hat Ruth schon hinter sich. „Meine Haut war komplett verbrannt, jetzt habe ich natürlich Probleme mit dem Schminken.“ Ruth hat ein Plattenepithelkarzinom der Haut, ein bösartiger Tumor, der zu 90 Prozent im Gesicht auftritt. Bei fünf Prozent der Betroffenen kommt es zu einer Metastasierung. „Bei mir war genau das der Fall“, sagt Ruth. Nach 15 Bestrahlungen und Hautverpflanzungen sei sie körperlich und psychisch ziemlich am Ende gewesen. „Ich habe aber eine tolle Unterstützung aus meinem Umfeld bekommen, das ist so unglaublich viel wert!“
Brigitte, die zierliche Frau in Jeans und schwarzem Rollkragenpulli, zu deren Füßen die Perücke aus der Handtasche herausschaut, nickt zustimmend. Sie streicht kurz über den zarten Haarflaum auf ihrem Kopf, rückt sich den runden Spiegel zurecht und beginnt damit, Tagescreme in ihrem Gesicht zu verreiben. Links neben ihr sitzt Ulrike und kommentiert das Geschehen mit trockenem Humor. „Super, ohne Perücke kann man so richtig schön herumschmieren!“ Ihre eigene Perücke will Ulrike im Moment aber nicht abnehmen. Dass die schicke graue Kurzhaarfrisur überhaupt eine Perücke sein soll, überrascht alle. „Das ist eine Perücke mit Netzteil, das lässt die Kopfhaut durchschimmern. Und weil es die nicht mit Strähnchen gab, habe ich mit wasserfester Wimperntusche einfach selbst für den Effekt gesorgt“, erzählt Ulrike gelassen. „Dumm darf man sein, aber man muss sich zu helfen wissen!“, ruft sie über den Tisch, und alle lachen.
Ulrike hat Brustkrebs und noch etliche Behandlungen vor sich. Dennoch will sie dem Krebs die Stirn bieten. „Die Krankheit wird mich nicht beherrschen und ich lasse mir auch meine Pläne für die Zukunft von ihr nicht kaputt machen“, sagt die resolute wie gepflegte Frau, die seit ihrem 13. Lebensjahr noch nie ungeschminkt aus dem Haus gegangen ist.
Vor fünf Jahren hatte Ulrike einen schweren Autounfall, etliche Operationen liegen hinter ihr, sie sei, so sagt sie, dem Tod damals gerade noch so von der Schippe gesprungen. Dass sie nun auch noch die Diagnose Krebs bekommen hat, das findet sie ungerecht. Doch ihre Kämpfernatur lässt nicht zu, dass sie in Traurigkeit versinkt. „Ich habe eine ganz gute Prognose, das macht die Sache leichter. Ich kann schon verstehen, wenn Frauen starke Depressionen bekommen und nur schwer aus diesem Tief wieder herauskommen.“
Ulrike hat einen großen Traum: eine dreimonatige Kreuzfahrt, für die sie schon viel gespart hat. „Die mache ich auf jeden Fall, halt ein bisschen später als geplant.“ Ihre Augen strahlen, man mag kaum glauben, dass diese lebensfrohe Frau vom Schicksal so gebeutelt ist. Ulrike kennt sich aus mit Make-up und Cremes, ihre modische Stilsicherheit ist nicht zu übersehen. Andrea Mager reicht ihr einen Lippenstift herüber, will gerade etwas sagen, dann winkt sie lachend ab. „Ach was, Sie sind ja schon Profi“, sagt die Kosmetikerin und die beiden fachsimpeln über diverse Pflegeprodukte. Derweil tauschen Ruth und Christiane ihre Lippenstifte und probieren die Farben auf ihrem Handrücken aus.
Kosmetikerin Mager ermuntert die Teilnehmerinnen, die Töne abzugleichen und die Produkte untereinander zu tauschen. „Wir müssen hier ganz schön improvisieren. Auf den Inhalt der Kosmetiktaschen haben wir Mitarbeiterinnen vor Ort keinen Einfluss, das macht es schwierig für jede Teilnehmerin die für sie optimalen Farben zu finden.“ Die Taschen sind ein Geschenk von DKMS life, die mit etlichen Sponsoren zusammenarbeitet.
Schritt für Schritt erklärt Andrea Mager, wie man ein perfektes Make-up hinbekommt, welcher Farbton bei welchem Hauttyp und bei welcher Haarfarbe geeignet ist. Im Moment dreht sich alles um das passende Rouge und in welcher Intensität es aufgetragen werden sollte. Alle schauen in ihre Spiegel, drehen ihre Köpfe hin und her, lassen sich von der Expertin helfen. Gerlinde, Ulrike und Ruth sind derweil in ein Gespräch über ihre Schulzeit in den 60er Jahren vertieft, nehmen manche Schminktipps nur noch am Rande wahr. „Das ist wunderbar. So soll es sein. Einfach mal für ein paar Stunden abschalten, nichts erklären müssen, vergessen, warum man hier zusammengekommen ist“, sagt Andrea Mager. Ruth nickt. „Man nimmt diese Momente der Freude aber auch viel bewusster wahr als früher.“ Das sieht Gerlinde genauso. „Die Tatsache, dass alle in der Familie gesund sind, hat eine ganz andere Bedeutung bekommen!“
Gerlinde ist 65 Jahre alt und würde gerne noch zwei Jahre arbeiten. Ihr Chef hat ihr auch schon einen entsprechenden Vertrag angeboten. „Allein diese Tatsache ist sehr ermutigend, aber ich glaube, da macht meine Familie nicht mit. Sie ist sehr besorgt – und mein Mann will mich bei sich zu Hause haben“, erzählt sie und lächelt. Auch Gerlinde sieht man nicht an, was sie schon durchgemacht hat. „Das sagt mein Arzt auch immer! Sie sehen gut aus!“, ruft Gerlinde und strahlt nun über das ganze Gesicht.
Andrea nimmt derweil ein Tuch aus Brigittes Kosmetiktasche, und alle Augen richten sich auf die beiden. Brigitte ist fertig geschminkt und mit dem Ergebnis zufrieden. Eigentlich würde sie jetzt gerne ihre Perücke wieder aufziehen, aber Andrea überzeugt sie davon, mit ihrer Hilfe das in verschiedenen Pastelltönen gestaltete Tuch trickreich zu drehen und zu knoten, sodass es optimal auf dem Kopf sitzt. „Wow!“, tönt es aus dem Raum, und alle schauen auf Brigitte. „Das steht dir ja perfekt!“, ruft Ruth, und auch Christiane, Kerstin, Gerlinde, Ulrike und Christine sind begeistert.
Ulrike setzt jetzt doch ihre Perücke ab. „Zu Hause trage ich auch Tücher, in der Öffentlichkeit allerdings nie.“ Brigitte nickt. „Ich fühle mich mit Perücke viel sicherer, das ist unauffälliger. Wenn du ein Tuch trägst, hast du immer das Gefühl, jetzt sehen alle, dass du Krebs hast.“ Andrea Mager versteht das. „Auch wenn man sich so nicht in der Öffentlichkeit zeigen möchte, so tut es doch gut, zu erfahren, dass einem bestimmte Sachen toll stehen“, sagt sie und begutachtet Brigittes Make-up. Die zieht ihre Perücke aus der Handtasche. Einen Augenblick später lächelt der Kosmetikerin eine schön geschminkte Frau mit halblangen blonden Haaren aus dem runden Spiegel entgegen.
Die nächsten Seminare für Tumorpatientinnen in Therapie sind in Planung und finden im Jahr 2015 voraussichtlich am 5. März, am 21. Mai, am 23. Juli, am 24. September und am 26. November, jeweils von 14 bis etwa 16 Uhr in der Geschäftsstelle des CCC Mainfranken, Universitätsklinikum Würzburg statt. Anmelden kann man sich unter Tel. (0931) 201 35350.