Es ist erstaunlich, wie viele Studenten an diesem düsteren, ungemütlichen Donnerstagabend in Würzburg doch noch den Weg in den Bau Acht, ganz hinten im Mittelgeschoss der Philosophischen Fakultät, in das Seminar in Kunstgeschichte von Frau Doktor Verena Friedrich gefunden haben. „Barocker Schlossbau in Europa“ ist ein Grundlagen-Kurs und wird somit vorrangig von Studenten der unteren Semester besucht.
Das erklärt auch die ansehnliche Teilnehmerzahl von 40 Studenten. Das Seminar birgt aber noch eine andere Auffälligkeit. Lässt man den, vom grellen Neonröhrenlicht angestrengten Blick über die in U-Form aufgestellten Tische und den daran sitzenden Teilnehmern schweifen, bleibt er an zwei Studenten hängen. Er sitzt ganz vorn, ein kleiner, gedrungener Mann mit braunem kurz-gescheiteltem Haar, mit gemütlichem Strickpullover und wachen, freundlichen Augen. Mit seinem Nachbarn plauschend, macht er einen lockeren Eindruck.
Sie hat sich etwas weiter hinten einen Platz gesucht. Ausgerüstet mit Rucksack, Regenjacke und einer khakifarbenen Hose, die rotblonden Locken in einem Kurzhaarschnitt natürlich fallend, wirkt sie sehr konzentriert und rational. Wie viele andere auch, wartet sie, ein wenig erschöpft einfach auf den Beginn der letzten Sitzung dieses Tages.
Reinhold Dukat und Susan Rastetter-Gies sind beide Studenten im zweiten Semester und sie sind beide über 60 Jahre alt. Beide haben ein erfolgreiches Berufsleben hinter sich. Der aus Nordrhein-Westfalen stammende Dukat hat als freiberuflich beratender Diplom-Betriebswirt für Firmen wie SAP gearbeitet und lebt heute in Kitzingen. Rastetter-Gies ist eigentlich eine „Frau Professor“, sie hat sich in Anglistik habilitiert und ist auch heute noch in Altersteilzeit an der Fachhochschule in Aschaffenburg als Lehrbeauftragte tätig.
In Aschaffenburg hat die gebürtige US-Amerikanerin auch ein Zuhause gefunden, weswegen sie fürs Studium aber mehrmals in der Woche mit Zug oder mit dem Auto nach Würzburg pendelt. Und doch haben sie sich darauf eingelassen, ihrem Hobby „in Vollzeit“ nachzugehen. Die zwei Senioren haben sich für ein Kunstgeschichte-Bachelorstudium im Hauptfach eingetragen, wobei Reinhold Dukat Geschichte und Susan Rastetter-Gies Klassische Archäologie im Nebenfach studiert.
Doch mit einem bloßen „ich interessiere mich halt dafür“ ist bei beiden die Entscheidung für dieses Projekt noch nicht erklärt. „Die Liebe hat mich 2010 nach Unterfranken gebracht“, erzählt der gebürtige Westfale, und die sei es auch gewesen, die ihn ermutigt habe, das Studium zu beginnen. „Meine Frau und ich reisen leidenschaftlich gern. Die fabelhaften Bauwerke durch das Studium bis ins kleinste Detail zu verstehen und die Geschichte drum herum zu kennen und den Gesamtzusammenhang zu begreifen, das ist die große Motivation, die für mich dahinter steckt.“
Auch Susan Rastetter-Gies hat eine spezielle Motivation. Allerdings hat diese ihren Ursprung nicht in der Familie: „Mein einer Sohn, der gerade sein Studium abgeschlossen hat, fand es eigentlich nur lustig, dass ich jetzt studiere. Mein anderer Sohn meinte, ich solle Kunst statt Kunstgeschichte studieren.“ Die in Detroit im Bundesstaat Michigan, USA, aufgewachsene Anglistin hat in Manchester ihre Doktorarbeit verfasst.
Bei dieser Gelegenheit hat sie sich näher mit dem Thema „Marientod“ beschäftigt. „Diesen 'Marientod' finde ich unheimlich spannend. Das ist auch ein beliebtes Motiv bei Künstlern aus den verschiedensten Epochen. Mein Traum ist es, ein Buch über den Marientod in der Kunstgeschichte und in der englischen Literatur des Mittelalters zu verfassen.“
Aber bis dahin gibt es noch einiges zu tun. Frau Professor Friedrich beginnt mit einer Ausführung zur Kathedrale von Laon, der Beamer wirft passende Bilder vorne im Raum an die Wand. Es geht um Arkadenformen und Pfeilertypen, Polygonalpfeiler, Rundpfeiler – viele Studenten schreiben emsig mit. Genau den Erklärungen der Dozentin folgend, zeichnet Rastetter-Gies wichtige Wandaufrisse mit verschiedenen Farben nach.
Als die Professorin eine Isometrie einer besonders komplizierten Architektur ankündigt, stöhnt die 63-Jährige, mit einigen Mitstudenten im Chor, leise auf. „Zu Beginn wurde mir schnell alles zu viel. Ich war erschöpft und wollte nicht mehr. Ich wollte einige Male schon fast abbrechen. Jetzt ist es aber einigermaßen geregelt und man hat sich daran gewöhnt“, erzählt sie.
Auch der 64-jährige Dukat musste sich nach knappen zwei Jahren „echtem Rentner-Alltag“ an einen straffen Zeitplan gewöhnen. „Für das Studium gehen im Extremfall schon mal 12 Stunden am Tag drauf“, erzählt er, „im ersten Semester habe ich 24 Wochenstunden belegt und arbeite im Schnitt dann schon noch so vier bis acht zusätzliche Stunden am Tag.“
Dass er darauf auch irgendwie stolz ist, und diese Zeit gerne investiert, merkt man ihm schnell an. Und wie kommen die beiden Senioren mit dem heutzutage doch komplett digitalisierten Studium zurecht? Sowohl für Rastetter-Gies als auch für Dukat stellen Prüfungsanmeldungen per Mausklick, digitalisierte Literatur und Diskussionsforen im Internet kein Hindernis da. Durch ihre Arbeit an der Fachhochschule ist die 63-Jährige all die gewohnt und auch Reinhold Dukat kennt sich berufsbedingt mit den neuen Medien bestens aus.
Für die „normalen“ Studenten der Kunstgeschichte sind „Senior-Erstis“ keine Seltenheit, was aber auch an den Inhalten des Faches liegt. Kontakte werden „zwischen den Generationen“ in diesem Seminar allerdings selten geknüpft. Vielmehr schwingt eine gewisse Bewunderung mit. „Die Zwei sind schon richtig fit auf dem Gebiet. Ich finde es toll, dass sie so etwas noch mal in Angriff nehmen. Und die Einwürfe des älteren Herrn haben auch immer einen gewissen Unterhaltungswert“, lächelt eine junge Frau, die mit einigen Kommilitonen ihren Stammplatz hinten links in der Ecke eingenommen hat.
Und tatsächlich, der Rentner Dukat wirft gerne immer wieder Kommentare in die Runde. „Da haben sie wohl mit dem Mörtel gespart, was?“, ulkt er, als es gerade um einen besonders ökonomischen Architekturstil geht. Professor Friedrich macht das gerne mit, kommen doch auch die einzigen „sinnvollen“ Wortbeiträge von Herrn Dukat. „Die jungen Leute nehmen das Studium heute schon sehr ernst. Da macht selten wer mal einen Spaß mit“, erzählt der aufgeweckte Westfale. „Ich bin da ganz anders, manchmal muss ich schon fast aufpassen, dass ich keinen Rüffel bekomme für meine dauernden Späßchen.“
Überhaupt unterscheidet sich die Art, wie die beiden das Studium angehen, deutlich von den jüngeren Studenten. Sie haben schon etwas erreicht im Leben und sind finanziell abgesichert. Prüfungsangst, Zukunftspanik und eine Regelstudienzeit, deren Überschreitung sich in der Bewerbung schlecht machen, kennen sie nicht. Sie bereiten keine Vorlesung nach, weil sie Angst haben, dass sie sich sonst beim Lernen auf die Klausur verzetteln, sondern einfach nur deshalb, weil sie das Thema interessiert.
Susan Rastetter-Gies ist den universitären Alltag sowieso schon seit jeher durch ihren Beruf gewohnt. Reinhold Dukat entdeckt hingegen immer wieder Verwunderliches an der Arbeitsweise der jungen Kommilitonen: „Was ich nicht verstehe, ist, wenn jemand einfach nichts mitschreibt in den Vorlesungen. Da redet der Professor 90 Minuten – und man schreibt nichts auf? Das geht ja gar nicht! Ich schreibe pro Vorlesung schon so meine zwölf Seiten mit.“
So unterschiedlich die beiden auch von Typus und Intention her sein mögen, sind sie sich doch in einem Punkt einig: „Was unser Studentenleben von dem der jüngeren Kollegen am meisten unterscheidet ist, dass wir nicht mehr auf diese Partys gehen müssen, das würde uns womöglich aus der Bahn werfen“, lächelt Susan Rastetter-Gies und Reinhold Dukat fügt noch hinzu: „Und auch dieses aufregende studentische Liebesleben, das haben wir längst hinter uns!“