
Je sechs Steinchen hat Klaus Bub in Maßbach und Poppenlauer aufgesammelt, bevor er sich mit dem Fahrrad auf den Weg nach Theresienstadt macht. In Terezín, wie die tschechische Stadt heute heißt, will der 66-Jährige diese „Zeugnisse der Heimat“ auf zwölf Gräber einstiger jüdischer Bürger aus den beiden fränkischen Ortschaften legen – so wie es Juden zu tun pflegen, wenn sie auf den Friedhof gehen. Doch die Suche nach den letzten Ruhestätten der acht Frauen und vier Männer, die 1942 von den Nazis deportiert wurden, gestaltet sich schwierig.
Als Leiter des Poppenläurer Heimatmuseums hatte Klaus Bub über die Jahre natürlich sehr viel mit historischen Zahlen und Fakten zu tun. Vor zehn Jahren begann er, sich mit den Schicksalen einstiger jüdischer Mitbürger der Marktgemeinde zu beschäftigen, und holte seinerzeit die alte Synagoge in Maßbach aus dem Dornröschenschlaf. Dort hielt er am Tag des offenen Denkmals 2016 einen Vortrag, in dem er erstmals über die Reise nach Theresienstadt sprach, die er bereits im vergangenen Jahr gemacht hatte. Denn er brauchte Zeit, all die gewaltigen Eindrücke zu verarbeiten. Und er wollte keinen Ruhm ernten für dieses ganz persönliche Projekt, das ihn im Mai 2015 auf die Straße trieb.
In Zugwaggons gepfercht
In vier Stunden wäre man mit dem Auto in Terezín. Doch Bub will von dieser bequemen Art zu reisen nichts wissen. Nicht in diesem Fall. Denn für die Juden aus Maßbach und Poppenlauer war der Transport nach Theresienstadt damals schrecklich. Sie wurden, zusammen mit Hunderten anderer Leidensgenossen, in Zugwaggons gepfercht. Bub will sich deshalb ohne Komfort auf die lange Radtour entlang des Weges machen, den die Züge damals in den Osten nahmen. Es ist seine ganz persönliche Pilgerreise.
Hin und zurück bringt er 818 Kilometer auf dem Fahrradsattel hinter sich – das wird er am Ende seiner Reise so ins Tagebuch eintragen. Zweieinhalb Tage braucht er bis Theresienstadt. Der Weg dorthin führt ihn über große Autostraßen, versteckte Waldpfade und abschüssige Radwege. Kulmbach, Marktschorgast, Schirnding, Eger, Franzensbad, Karlsbad sind Etappenziele. Zwei Nächte verbringt er im billigen Discounter-Schlafsack im Freien.
Am dritten Tag erreicht der 66-Jährige gegen 17.30 Uhr Theresienstadt. Eigentlich will er erst mal ein Hotelzimmer suchen. Doch dann fährt er an der Kleinen Festung der früheren Garnisonsstadt vorbei. Er ist neugierig und steigt ab. Ist das wohl das Getto? Angesichts des riesigen internationalen Friedhofs mit Hunderten von Gräbern verschlägt es ihm den Atem. Muss er die Steine aus seiner Heimat hier ablegen?
Doch dann liest er auf den Tafeln, dass hier die Gestapo während der NS-Zeit ein Gefängnis für Oppositionelle unterhielt. Die Zahlen auf den Infotafeln schockieren ihn: Zwischen 1940 und 1945 wurden diesem Gefängnis 27 000 Männer und 5000 Frauen, vorwiegend aus Böhmen und Mähren, von anderen Gestapo-Dienststellen zugewiesen.
Ein Hotelzimmer findet Bub dann doch noch. Als er im Bett liegt, kreisen seine Gedanken. Die Geschichte der Stadt, die Schicksale Tausender Menschen halten ihn gefangen.
Beklemmende Vergangenheit
Zwei Tage hat der Maßbacher für seine Reise zurück in die beklemmende Vergangenheit Theresienstadts vorgesehen. Am Donnerstag geht er ins Museum des einstigen Gettos. Beim Rundgang versucht er zu begreifen, was er an den Schautafeln liest: 140 000 Menschen deportierten die Nazis ins Getto der Stadt, darunter auch 15 000 Kinder. Bereits im September 1942 waren in den Häusern der einstigen Garnisonsstadt fast 60 000 Menschen auf engstem Raum interniert.
Bub versucht sich vorzustellen, wie all diese Männer, Frauen und Kinder auf engstem Raum miteinander auskommen konnten? Und doch müssen die Menschen im Getto, also auch die Deportierten aus Maßbach und Poppenlauer, versucht haben, ein „normales Leben“ zu führen. Das sieht er auf den Fotos und Zeichnungen: Da gibt es Menschen, die Schreinerarbeiten verrichten, Viehhandel betreiben und Theater spielen. Und es fällt ihm eine Postkarte ein, die der Poppenläurer Philipp Kremer 1943 aus dem Getto nach Hause schrieb: „Bei uns sind alle gesund“, heißt es dort, obwohl seine Frau zu dieser Zeit bereits tot war.
Auch später in den Kasematten (Gewölbekellern) der Festung, in denen die Totenkammern waren, bekommt der Maßbacher einen Kloß im Hals, weil dort an manchen Tagen bis zu 100 Menschen starben und weil er sich fragt, wie man all diese Leute wohl begraben hat. Die Antwort findet er in den Bildern und Dokumenten an der Wand: Zunächst waren die Toten in Holzsärgen und Einzelgräbern bestattet worden. Später setzte man die Verstorbenen in Massengräbern bei. Ende 1942 ließen die Nazis ein Krematorium errichten, in dem die Toten verbrannt wurden.
Die Aschen wurden zuletzt in Urnen aus Pappe gegeben und in das Kolumbarium am Festungswall gebracht. Bis Ende 1944 sollen dort Tausende von Urnen aufgetürmt worden sein. Im November 1944 begannen die Nazis schließlich damit, die Spuren ihrer Verbrechen in Theresienstadt zu beseitigen. Die Lagerleitung ordnete an, dass die Aschen von 22 000 Häftlingen in die Eger zu werfen seien.
Bub hatte sich zwar innerlich darauf eingestellt, was ihn in Theresienstadt erwarten würde. Doch die unmittelbare Konfrontation mit all diesen Gräueltaten trifft ihn dann doch mit aller Wucht. Längst ist er nicht mehr Herr seiner Gefühle. Dass ihm öfter die Tränen kommen, dazu steht er.
Als er später das Krematorium des früheren Lagers besucht, schildert er dem Angestellten dort sein Vorhaben, die Gräber von zwölf Juden aus seiner fränkischen Heimat zu finden. Schnell wird klar, dass die Urnen von neun dieser Männer und Frauen wohl unter jenen 22 000 waren, die man 1944 in die Eger warf.
Gegen 17 Uhr steht Bub schließlich an der Eger und betrachtet lange die Stelle, an der einstmals die Aschen Tausender von Menschen in den Fluss gestreut wurden. Eine halbe Stunde später lässt er die Steinchen aus Maßbach und Poppenlauer ins Wasser fallen, zum Gedenken an Cilly Rosenberger, Marianne und Johanna Eberhardt, David Frank, Isidor Grünbaum, Philipp und Eleonore Kremer, Frieda Klau und Simon Weil.
Ein letzter Gruß aus der Heimat
Um 21 Uhr findet er sich am Jüdischen Friedhof neben dem Krematorium ein, wo zahllose Einzel- und Massengräber sind. In der Mitte steht eine große Plastik in Form einer jüdischen Menora. Dort legt er den Stein für Lina Heidelberger aus Maßbach hinein, die im Oktober 1942 im Getto starb – zu einer Zeit also, in der die Menschen dort in Massengräbern beigesetzt wurden.
Zwei Steinchen bleiben übrig: Fanny Reis und Hannchen Frank lebten zwar mehr als ein Jahr lang im Getto Theresienstadt. Beide wurden jedoch am 18. Mai 1944 nach Auschwitz deportiert. Kurz überlegt Bub, ob er auch noch dorthin radeln soll. Doch das ist ihm zu weit. Also fährt er am nächsten Morgen zur historischen Bahnrampe hinaus, auf der die Züge nach Auschwitz rollten. Dort legt er die Steine zwischen die Gleise. Ein letzter Gruß aus der Heimat.


