Wer soll aufräumen in einem unter Zuhälter und Huren geratenen Gemeinwesen, wenn der amtsmüde Herzog sich einen Stellvertreter sucht und sich zum Chillen ins Ausland absetzt? In Shakespeares zwischen Komödie und tragischen Abgründen changierendem Problem-Play "Maß für Maß" steckt schon im Namen dieses Stellvertreters bittere Ironie. Der "Engel" Angelo wird zum Sinnbild des allgegenwärtigen Korruptionsrisikos für die Mächtigen, die sich im Ausleben ihrer Sexualität und skrupellosen Durchsetzung ihrer Karrieregelüste aufgrund ihrer abgehobenen Stellung absolut sicher fühlen. Und auf einmal kommen die Dialoge im Stück unserer Zeit und ihren ebenso scheinheiligen wie triebgesteuerten und deshalb brandgefährlichen Mächtigen von #Me too bis Brexit ganz nahe.
Solche Doppelbödigkeit ist ein gefundenes Fressen für die Truppe der Shakespeare Company Berlin, die den 35. Theaterring der Stadt Bad Kissingen im Kurtheater eröffnete. Sie zeigt schon seit Jahren dem Kissinger Publikum, dass Shakespeares Werke keineswegs für ein braves Bildungsbürgertum gedacht waren, sondern für den quirligen Schmelztiegel London und sein aus allen Bevölkerungsschichten stammendes Publikum. Um jegliche Ähnlichkeit mit seiner Heimat auszuschließen, verlegte Shakespeare den Handlungsort nach Wien ganz da unten kurz vor den Türken.
Die Produktion der Berliner ist diesmal in Zusammenarbeit mit dem Vorstadttheater Basel entstanden, und dessen Leiter Matthias Grupp hat Regie geführt. Seine Darsteller nannte er nach Opernbrauch Buffonen (eigentlich: Buffi), also nach Lexikon "bis zur Karikatur überzeichnete Figuren oder Typen, die allein schon durch ihre Gestik, Mimik und Kostümierung das Publikum zum Lachen anregen sollen". Das passt insofern, als eine der Quellen von Shakespeares Komödie die Commedia dell' arte war, legitimiert auch die vielen Slapstickeinlagen mit manchmal auch überflüssigen Wiederholungen der Running Gags.
Doch wie immer machte die Company aus Shakespeares Zwitter eine nicht nur kurzweilige Unterhaltung mit Gags, Ironie, Wortspielen - auch mal mit kleinen Ausflügen ins Schrille -, sondern ließ auch die ernste Thematik der Haupthandlung zum Tragen kommen. Es geht da ja wirklich um Machtmissbrauch, um das Ignorieren der Selbstbestimmungsrechte der Frauen, um das Ausleben der verkorksten Sexualität eines vorgeblichen Tugendbolds und es geht, im Gewand einer beißenden Satire über das Handwerk des Henkers Abhorson, um komplette Abstumpfung gegenüber Grausamkeit.
Dagegen hält Shakespeare auch die andere Spezies Mensch: den Gefangenenwärter, der in unbeirrbarer Anständigkeit immer wieder für ihn selbst recht gefährliche Versuche unternimmt, Claudios drohende Hinrichtung zu verhindern. Selten sieht man wie in diesem Stück aber auch die Bloßstellung der banalen Mechanismen des Tötens: Bei der Suche nach einem Ersatzopfer für Claudio, der dienstbeflissenen Inkompetenz des Polizisten Ellenbogen und der völligen Gleichgültigkeit des Behördenapparats in Gestalt etwa der witzig karikierten, aber angesichts der Lage erschreckend teilnahmslosen Sekretärin.
Die Schreckgespenste für die braven Bürgersleute, Puffmutter Madame Overdone und ihr Gehilfe Pompey, werden dagegen von Shakespeare nicht als solche diffamiert, sondern in ihrer Angst vor dem Verlust ihrer Existenzgrundlage angesichts der Tugendherrschaft des Angelo gezeigt. Und so wurde gerade bei dem so unterschiedlichen Personal des Stücks in der Inszenierung die Genialität der Personendarstellung Shakespeares immer wieder deutlich gemacht: Auch die so reine Novizin Isabella ist zu großer Grausamkeit gegenüber ihrem Bruder fähig, auch der so edle echte Herzog verfolgt als Nebenziel, mit Isabella ins Bett zu steigen.
Schon bei der reinen Nennung des Personals zeigt sich, welch sportliche Leistung die fünf Darsteller in ihren 17 Rollen und beim ständigen Umziehen auf der diesmal auch einsehbaren Hinterbühne leisten mussten. Pia Wessels Stellwände mit ihren vielen Öffnungen und vielfältigen Möglichkeiten des Sich-Verhakens machten beim Zuschauen sehr viel Spaß. Die Musikeinlagen waren diesmal bis auf Nico Selbachs Gitarrenbegleitung meist vokal und a cappella, reichten von Händel ("Zadok the Priest, Lascia ch'io pianga) bis zu Bob Dylan und deutschen Schlagern und zur urkomischen Nachahmung einer Singenden Säge durch die Singstimme.
Sie bildeten kleine, fein ausgestaltete Ruhepunkte im tumultuösen Treiben auf der Bühne und den eindrucksvoll leisen, nachdenklichen Komödienschluss mit der obligatorischen Paarbildung, denn die sich da kriegen, sind nicht mehrheitlich glücklich. Die drei Frauen Katja Uhlig (Mariana, Wärter, Ellenbogen), Vera Kreyer (Claudio, Abhorson, Frau Ellenbogen, Nonne), Katharina Kwaschik (Isabella, Pompey) und die Männer Nico Selbach (Angelo, Lucio, Barnardino, Pater Peter) und Tobias Schulze (Herzog, Madame Overdone, Sekretärin, Knabe) unterhielten mit mitreißender Spiellust ihr am Ende enthusiastisches Publikum (und gingen auch mal wieder mit der 1. Reihe auf Fühlkontakt, wo ein amüsierter Zuschauer fürs Köpfen hergerichtet wurde).
Das Ganze endete mit einem so noch nicht dagewesenen Aufschrei vieler Bravos aus dem nahezu ausverkauften Haus und immer wieder aufbrandenden Applaussalven, bis Katharina Kwaschik sich schließlich bei den Kissinger Fans für ihren Enthusiasmus bedankte, auf den fürs nächste Jahr geplanten "Othello" hinwies und alle für den nächsten Sommer auf die Freilichtbühne der Truppe im Schöneberger Natur-Park in Berlin einlud.