
Was, wenn die Granate gesessen hätte? Eine der vielen, die am 5. April 1945 auf Walter Buri herabregneten, der nahe des heutigen Pflegeheims Römershag in einem Wassergraben an der Bahnstrecke Jossa - Wildflecken kauerte. Dann wäre das Leben des zwölfjährigen Würzburgers früh aus gewesen. So wie das von seinem Lehrer, dem wenige Meter entfernt ein Splitter den Kopf zerriss. So aber kann der 89-Jährige berichten. Vom Kampf um Römershag und der Einnahme des Heims durch die Amerikaner. Und dass sein Leben an dem Tag noch zweimal am seidenen Faden hing.
Walter Buri war mit seiner Familie Ostern 1944 in die Rhön gezogen. Sein Vater befürchtete die Bombardierung Würzburgs; als Oberarzt der Wehrmacht an der Ostfront wusste er, was das bedeutete. Die Buris bezogen das Obergeschoss des ersten Hauses in Römershag , von Brückenau aus gesehen.
Der Vater, im April 1945 nach einer Fleckfieber-Infektion auf Genesungsurlaub bei der Familie, sah voraus, dass die heranrückenden Amerikaner dieses Haus als eines der ersten beschießen würden. Also wichen die Würzburger kurzfristig in den entlegenen Pilsterhof aus.
Von dort wagten sich Walter Buris Mutter und Lehrer Hermann Gilbert am 5. April ins Tal, zur "Kreisanstalt für Unheilbare". Der Vater blieb am Pilsterhof; die SS hätte ihn womöglich als Deserteur aufgeknüpft.
Die Buris besaßen engen Kontakt zu den Erlöserschwestern, die sich um die Bewohner der "Kreisanstalt" kümmerten. Ihre Würzburger Firma stellte Kirchenbedarf her. Der zwölfjährige Walter, seine Mutter und Lehrer Gilbert flüchteten in den Keller, als ein Geballere begann. Eine Granate schlug offensichtlich nebenan ein. Der Putz platzte von den Wänden, hüllte den Raum in Staub. Panik, Atemnot, kaum mehr Sicht - die Insassen flüchteten nach draußen, der Zwölfjährige, seine Mutter und der Lehrer über einen hinteren Durchlass hin zum Bahndamm.
SS-Panzer fordern U.S. Army
Wo sie den andauernden Beschuss der U.S. Army durchlitten. "Es war lang, unendlich lang", erinnert sich der 89-Jährige. Bestimmt eineinhalb bis zwei Stunden hätten die Amerikaner das Dorf mit Granaten "bepflanzt". Was mindestens das Leben Hermann Gilberts forderte.
Walter Buri hat nachgeforscht, was in jenen Stunden in der Nähe geschah. Die Amerikaner, die zuvor kampflos Brückenau genommen hatten, hatten wohl einen Panzer mit weißer Fahne nach Römershag geschickt. Zwei Panzerwagen einer versprengten SS-Einheit hatten sich in einem bäuerlichen Anwesen versteckt, feuerten auf das ungedeckte Fahrzeug. Der U.S.-Panzer zog sich zurück; die SS-Sturmgeschütze über die Sinnbrücke nach Oberriedenberg ebenso.
Doch die Amerikaner reagierten. Sie setzten auf eine nicht nur im Zweiten Weltkrieg bewährte Taktik: mit überlegener Beschusskraft die Stellungen des Feindes ausräuchern, um die Verluste an eigenen Soldaten klein zu halten.
So musste das kleine Römershag samt "Heilanstalt" dran glauben. Buri, nach einer ersten Begegnung mit den Amerikanern im Dorf zurückgekehrt, berichtet von massiven Schäden, vor allem im Dachstuhl und den Brückenau zugewandten Wänden des historischen Komplexes. Im Innenhof stand Schwester M. Philiberta, Konventsoberin und Heimleiterin - fassungslos, wütend. Sie habe nicht begreifen können, dass die Amerikaner ein Haus, in dem Hilfsbedürftige betreut wurden, angegriffen hatten.
Und so kam es zu einem weiteren kritischen Moment, als die ersten Soldaten des Kriegsgegners an die verriegelte Hauptpforte des Schlosses klopften. Buri beschreibt ihn 2019 in einem Beitrag der Heimzeitung "Schlosstrommel".
"Jetzt die Schläge! Gewehrkolben gegen massives Holz. Philiberta gibt (Sr.) Verena stumm ein Zeichen: Sie soll nun das kleine Fußgängertürchen entriegeln."
Es war ein kleiner Mann, der sich durchs Tor schob, weiß der Würzburger noch. "Zugehängt mit gegurteten Patronentaschen und Eierhandgranaten, das Gewehr auf uns gerichtet. Hunderte Male auf seinem Feldzug wird er verschüchterte Anwohner mit angstvoll pochenden Herzen und hochgestreckten Händen angetroffen haben."
Doch beinahe eskalierte die Situation. Denn Oberin Philiberta stürzte - noch aufgebracht wegen der Beschießung - auf den verdutzten jungen Soldaten zu. Der schoss nicht, sank auf die Knie, machte hastig das Kreuzzeichen der Katholiken. Die Schwester , sichtlich ruhiger, hielt ihre Hände verzeihend über seine Schultern. Nach und nach schoben sich seine Kameraden durch die Pforte.
Noch einmal wurde es brenzlig, als eine Nonne ein metallisches Ding anschleppte, offenkundig ein Blindgänger, der im Obergeschoss eingeschlagen war. Keiner der Amerikaner, die gerade von den Schwestern Eier empfangen hatten, war mehr zu sehen, so Buri. Später rückten Spezialisten der Army an und nahmen die Munition mit.
Für Walter Buri war der Krieg damit zu Ende. Er und seine Mutter zogen wieder in ihre noch stehende Unterkunft; der Vater ging in zweijährige Gefangenschaft. Der Zwölfjährige verdingte sich bei einem Bauern, wechselte im Januar 1946 aufs humanistische Gymnasium Münnerstadt. 1948 kehrte die Familie, zu der noch ein Bruder und eine Schwester gehörten, nach Würzburg heim.
In den Folgejahren sah Buri das Pflegeheim Römershag nur auf der Durchreise. Zu den Schwestern pflegte er keinen Kontakt. Aber 2018 stand er plötzlich im Hof der Einrichtung - und traf Heimleiter Roberto Ranelli. Der ihn bat, seine Erinnerungen festzuhalten. Übrigens: Die werden auch immer wieder lebendig, wenn er vom Ukraine-Krieg hört, liest oder Bilder davon sieht.