Hammelburg
Zwei Heimatvertriebene erzählen ihre Geschichte
Vor 70 Jahren mussten Norbert Binder und Martha Scherpf ihre Heimat in Tschechien verlassen. Beide leben heute in Hammelburg. Das ist ihre Geschichte.
Martha Scherpf, 87, sitzt an ihrem Küchentisch, vor ihr steht eine Tasse Schwarztee, hinter ihr, auf der Ablagefläche der Küchenzeile, liegen die ersten zwanzig Jahre ihres Lebens, sortiert und abgeheftet in drei Ledermappen.
"Was wollen Sie sehen?", fragt Martha Scherpf und gibt einen Spritzer Zitrone in den Tee. Der Gesundheitsschein - "Ohne Gesundheitsschein keine Lebensmittelmarken" - ist ein kleines, gefaltetes Büchlein, darin ein Eintrag: 25. April 1946 Entlaust mit DDT-Puder. Abgestempelt in Blau.
Als vor 70 Jahren die Vertreibung der Sudetendeutschen aus Tschechien begann, war Martha Scherpf 17 Jahre alt. Im April 1946 kamen sie, ihre ältere Schwester und ihr Bruder in Diebach an. Ihre Eltern und fünf ihrer Geschwister landeten in der DDR.
Noch heute, sagt sie, sehe ich uns da sitzen, meine Schwester und mich. Auf Säcken in der Garderobe der evangelischen Schule in Völkersleier. Kein Bett, nur ein Kaminofen in der Ecke. Sie wussten nicht, wie sie ihn hätten anheizen sollen. Die Schwester besorgte am nächsten Morgen zwei Faltbetten vom Bürgermeister. Die Vertriebenen im Nebenzimmer zeigten ihnen, wo sie an Holz für den Kamin kommen konnten. In der Garderobe lebten sie zwei Jahre lang.
Nächstes Dokument. Vermerk über erhaltene Sachspenden. 12.8.46: Ein Damenschlüpfer, 6.9.46: Ein Büstenhalter, 25.11.47: Ein Paar Straßenschuhe. Warum sie das alles aufgehoben hat? Man kann sich so schlecht trennen, sagt sie, dann fällt ihr Blick auf ein Gedicht: "Reise in die Heimat" ist der Titel. "Ich reime gerne", sagt sie. "Denkt Euch, ich habe die Heimat gesehn; die Felder, die Wälder, die Täler, die Höhn." Grulich, sagt sie, ich möchte Ihnen Grulich zeigen. Sie holt drei Postkarten aus einer der Ledermappen. Eine zeigt die Marienquelle, die zweite ein Hotel, die dritte den Marktplatz. Dreimal war sie nach ihrer Vertreibung noch dort. "Auch was fremd war, erfasste ich, doch zählte es nicht; für mich behielt alles das alte Gesicht."
Seit 70 Jahren lebt sie in Hammelburg, hat geheiratet, Theater gespielt, Kinder bekommen, im Chor gesungen, Freunde gefunden, Freunde verloren, gelacht, geweint, am Fasching in der Bütt gestanden - und dennoch: Auf die Frage, wo ihre Heimat ist, folgt eine kurze Pause. Keine zögernde Pause, sondern eine, in der man sich an etwas erinnert und unwillkürlich lächeln muss. Sie sagt, ganz ruhig: "Grulich, das ist meine Heimat."
Binder Norbert, 7, männlich, deutsch, Beruf: Schüler, Wohnort: Saborsch, Ziel: Bayern, hatte bei seiner Abschiebung am 24. Januar 1946 einen kleinen Rucksack dabei. Seine Mutter hatte darin alle wichtigen Dokumente versteckt, er selbst hatte darauf bestanden, auch die Fotos mitzunehmen. Kinder wurden bei der Ausreise nicht kontrolliert.
70 Jahre später sitzt Norbert Binder, 76, in seinem geräumigen Esszimmer mit Blick über Hammelburg und greift nach einem abgegriffenen Fotoalbum. Kinderfotos von sich und seinen Brüdern, Hochzeitsfotos seiner Eltern, Erinnerungen in Schwarz-Weiß. Unbezahlbar, sagt Binder. Vor einigen Jahren dann hat er angefangen, mehr davon zu sammeln; Erinnerungen, Geschichte. Seinen größten Schatz hat er im Stadtarchiv Furth im Wald gefunden: die "Amtliche Bestätigung der abgeschobenen Personen vom 1. Transport Waggon V." - es war sein Transport, der erste von 1112 Zügen, die über Furth im Wald nach Bayern fuhren. Zwar sei er, sagt Binder, vom Tag seiner Ankunft an Hammelburger gewesen. Aber: "Je älter man wird, desto mehr kommt man zu den Wurzeln zurück."
Norbert Binder legt Wert auf die Feststellung, dass er kein Flüchtling ist. Es steht in Rot auf seinem Notizblatt: "Wir sind als Heimatvertriebene gekommen, nicht als Flüchtlinge." Das ist ein Unterschied. Wir wollten nicht fliehen, sagt er. "Wir wären geblieben, auch unter einem kommunistischen Regime."
Für die Flüchtlinge heute hat er dennoch großes Verständnis. Seit Kurzem trifft er sich mit zwei Syrern zum Schachspielen. Ich weiß wie es ist, nichts zu haben, sagt er, wie es ist, sich integrieren zu müssen.
Da saßen sie, an einem kalten Sonntagnachmittag im Januar 1946, nach einer viertägigen Reise im Viehtransport von Saborsch in Südböhmen nach Wartmannsroth in Unterfranken. Saßen da im großen Saal in einem Gasthaus, das ausgerechnet "Glück" hieß: Binder, seine beiden Brüder, drei Jahre alt, die Großeltern, seine Mutter und warteten mit den anderen Vertriebenen darauf, auf die Bauernhöfe verteilt zu werden. Sie saßen lange da: zu jung, zu alt, das falsche Geschlecht - keiner der Bauern wollte sie haben. Am nächsten Tag wurden sie einem Hof zwangszugewiesen.
Vor allem seine Mutter hatte während dieser Zeit Großartiges geleistet, sagt Norbert Binder - auch das steht in Rot auf seinen Notizen.
Für die Erwachsenen, sagt er, war der Verlust der Heimat eine Katastrophe. "Für mich war das alles nicht so schlimm." Es war ein Abenteuer. Der Transport, die neue Heimat, vor allem die Natur in Wartmannsroth hatte es ihm angetan: Er wusste, wo die besten Apfelbäume stehen, die besten Nüsse wachsen, er war Spezialist im Heidelbeer-Pflücken. Wie man darin Spezialist sein kann? Die Schnelligkeit, sagt er, die Schnelligkeit. Er hat Feldhasen gezüchtet. Heute, sagt er, kann er keinen Hasen mehr essen. Nie wieder.
"Die Heimat, im Sommerglanz war sie so schön o welches Glück, daß ich sie noch einmal gesehn."
Manchmal, sagt Martha Scherpf, beneide ich die Jugend. "Wenn ich sehe, wie schwer sie es sich machen, ohne zu wissen, wie gut sie es eigentlich haben." Der Krieg und die Folgen haben ihr viel genommen, etwas hat sie immer behalten: "Meinen Humor." Während sie eine ihrer Büttenrede zum Besten gibt - "bei der Sitzung im Pfarrheim war ich heuer die einzige Rednerin" - zieht sie ein Foto aus einem Umschlag.
Es zeigt sie und ihre Freundin im diesjährigen Faschingskostüm: die Wildecker Herzbuben. Sie legt das Foto auf den Tisch. Es verdeckt den Marktplatz auf der Postkarte von Grulich und das Heftlein mit dem Stempel für die erfolgreiche Entlausung. Herzbube sticht Erinnerung. Für heute.
"Was wollen Sie sehen?", fragt Martha Scherpf und gibt einen Spritzer Zitrone in den Tee. Der Gesundheitsschein - "Ohne Gesundheitsschein keine Lebensmittelmarken" - ist ein kleines, gefaltetes Büchlein, darin ein Eintrag: 25. April 1946 Entlaust mit DDT-Puder. Abgestempelt in Blau.
Als vor 70 Jahren die Vertreibung der Sudetendeutschen aus Tschechien begann, war Martha Scherpf 17 Jahre alt. Im April 1946 kamen sie, ihre ältere Schwester und ihr Bruder in Diebach an. Ihre Eltern und fünf ihrer Geschwister landeten in der DDR.
Noch heute, sagt sie, sehe ich uns da sitzen, meine Schwester und mich. Auf Säcken in der Garderobe der evangelischen Schule in Völkersleier. Kein Bett, nur ein Kaminofen in der Ecke. Sie wussten nicht, wie sie ihn hätten anheizen sollen. Die Schwester besorgte am nächsten Morgen zwei Faltbetten vom Bürgermeister. Die Vertriebenen im Nebenzimmer zeigten ihnen, wo sie an Holz für den Kamin kommen konnten. In der Garderobe lebten sie zwei Jahre lang.
Nächstes Dokument. Vermerk über erhaltene Sachspenden. 12.8.46: Ein Damenschlüpfer, 6.9.46: Ein Büstenhalter, 25.11.47: Ein Paar Straßenschuhe. Warum sie das alles aufgehoben hat? Man kann sich so schlecht trennen, sagt sie, dann fällt ihr Blick auf ein Gedicht: "Reise in die Heimat" ist der Titel. "Ich reime gerne", sagt sie. "Denkt Euch, ich habe die Heimat gesehn; die Felder, die Wälder, die Täler, die Höhn." Grulich, sagt sie, ich möchte Ihnen Grulich zeigen. Sie holt drei Postkarten aus einer der Ledermappen. Eine zeigt die Marienquelle, die zweite ein Hotel, die dritte den Marktplatz. Dreimal war sie nach ihrer Vertreibung noch dort. "Auch was fremd war, erfasste ich, doch zählte es nicht; für mich behielt alles das alte Gesicht."
Seit 70 Jahren lebt sie in Hammelburg, hat geheiratet, Theater gespielt, Kinder bekommen, im Chor gesungen, Freunde gefunden, Freunde verloren, gelacht, geweint, am Fasching in der Bütt gestanden - und dennoch: Auf die Frage, wo ihre Heimat ist, folgt eine kurze Pause. Keine zögernde Pause, sondern eine, in der man sich an etwas erinnert und unwillkürlich lächeln muss. Sie sagt, ganz ruhig: "Grulich, das ist meine Heimat."
Vertrieben, nicht geflohen
Binder Norbert, 7, männlich, deutsch, Beruf: Schüler, Wohnort: Saborsch, Ziel: Bayern, hatte bei seiner Abschiebung am 24. Januar 1946 einen kleinen Rucksack dabei. Seine Mutter hatte darin alle wichtigen Dokumente versteckt, er selbst hatte darauf bestanden, auch die Fotos mitzunehmen. Kinder wurden bei der Ausreise nicht kontrolliert. 70 Jahre später sitzt Norbert Binder, 76, in seinem geräumigen Esszimmer mit Blick über Hammelburg und greift nach einem abgegriffenen Fotoalbum. Kinderfotos von sich und seinen Brüdern, Hochzeitsfotos seiner Eltern, Erinnerungen in Schwarz-Weiß. Unbezahlbar, sagt Binder. Vor einigen Jahren dann hat er angefangen, mehr davon zu sammeln; Erinnerungen, Geschichte. Seinen größten Schatz hat er im Stadtarchiv Furth im Wald gefunden: die "Amtliche Bestätigung der abgeschobenen Personen vom 1. Transport Waggon V." - es war sein Transport, der erste von 1112 Zügen, die über Furth im Wald nach Bayern fuhren. Zwar sei er, sagt Binder, vom Tag seiner Ankunft an Hammelburger gewesen. Aber: "Je älter man wird, desto mehr kommt man zu den Wurzeln zurück."
Norbert Binder legt Wert auf die Feststellung, dass er kein Flüchtling ist. Es steht in Rot auf seinem Notizblatt: "Wir sind als Heimatvertriebene gekommen, nicht als Flüchtlinge." Das ist ein Unterschied. Wir wollten nicht fliehen, sagt er. "Wir wären geblieben, auch unter einem kommunistischen Regime."
Für die Flüchtlinge heute hat er dennoch großes Verständnis. Seit Kurzem trifft er sich mit zwei Syrern zum Schachspielen. Ich weiß wie es ist, nichts zu haben, sagt er, wie es ist, sich integrieren zu müssen.
Da saßen sie, an einem kalten Sonntagnachmittag im Januar 1946, nach einer viertägigen Reise im Viehtransport von Saborsch in Südböhmen nach Wartmannsroth in Unterfranken. Saßen da im großen Saal in einem Gasthaus, das ausgerechnet "Glück" hieß: Binder, seine beiden Brüder, drei Jahre alt, die Großeltern, seine Mutter und warteten mit den anderen Vertriebenen darauf, auf die Bauernhöfe verteilt zu werden. Sie saßen lange da: zu jung, zu alt, das falsche Geschlecht - keiner der Bauern wollte sie haben. Am nächsten Tag wurden sie einem Hof zwangszugewiesen.
Vor allem seine Mutter hatte während dieser Zeit Großartiges geleistet, sagt Norbert Binder - auch das steht in Rot auf seinen Notizen.
Für die Erwachsenen, sagt er, war der Verlust der Heimat eine Katastrophe. "Für mich war das alles nicht so schlimm." Es war ein Abenteuer. Der Transport, die neue Heimat, vor allem die Natur in Wartmannsroth hatte es ihm angetan: Er wusste, wo die besten Apfelbäume stehen, die besten Nüsse wachsen, er war Spezialist im Heidelbeer-Pflücken. Wie man darin Spezialist sein kann? Die Schnelligkeit, sagt er, die Schnelligkeit. Er hat Feldhasen gezüchtet. Heute, sagt er, kann er keinen Hasen mehr essen. Nie wieder.
"Die Heimat, im Sommerglanz war sie so schön o welches Glück, daß ich sie noch einmal gesehn."
Manchmal, sagt Martha Scherpf, beneide ich die Jugend. "Wenn ich sehe, wie schwer sie es sich machen, ohne zu wissen, wie gut sie es eigentlich haben." Der Krieg und die Folgen haben ihr viel genommen, etwas hat sie immer behalten: "Meinen Humor." Während sie eine ihrer Büttenrede zum Besten gibt - "bei der Sitzung im Pfarrheim war ich heuer die einzige Rednerin" - zieht sie ein Foto aus einem Umschlag.
Es zeigt sie und ihre Freundin im diesjährigen Faschingskostüm: die Wildecker Herzbuben. Sie legt das Foto auf den Tisch. Es verdeckt den Marktplatz auf der Postkarte von Grulich und das Heftlein mit dem Stempel für die erfolgreiche Entlausung. Herzbube sticht Erinnerung. Für heute.
Themen & Autoren / Autorinnen