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Bad Kissingen
Zuschauer muss Stellung beziehen
"Gott" ist ein besonderes Stück. Ferdinand von Schirach gelingt es, einen ethisch schwierigen Sachverhalt in seiner ganzen Komplexität in einem Theatertext zu komprimieren. 137 stimmten für die Selbsttötung, 74 dagegen.
Richard Gärtner (Ernst Wilhelm Lenik) bei seiner Anhörung vor dem Ethikrat in Ferdinand von Schirachs viel diskutiertem Stück über Sterbehilfe, das im Bad Kissinger Kurtheater vor einem begeisterten Publikum gezeigt wurde.       -  Richard Gärtner (Ernst Wilhelm Lenik) bei seiner Anhörung vor dem Ethikrat in Ferdinand von Schirachs viel diskutiertem Stück über Sterbehilfe, das im Bad Kissinger Kurtheater vor einem begeisterten Publikum gezeigt wurde.
Foto: Gerhild Ahnert | Richard Gärtner (Ernst Wilhelm Lenik) bei seiner Anhörung vor dem Ethikrat in Ferdinand von Schirachs viel diskutiertem Stück über Sterbehilfe, das im Bad Kissinger Kurtheater vor einem begeisterten Publikum gezeigt ...
Gerhild Ahnert
 |  aktualisiert: 22.11.2022 03:40 Uhr

Ferdinand von Schirach stellt althergebrachte Schlüsse im europäischen Theater auf den Kopf. In seinen Publikumserfolgen "Terror" und " Gott " geht es nicht - wie so oft bei Shakespeare bis Schiller - um die Bestrafung eines Menschen, der die Regeln menschlichen Zusammenlebens empfindlich gestört hat, mit dem Tod. Schirach stellt sein Publikum vielmehr vor die Frage, wann es gerechtfertigt ist, dass ein Mensch mit Zustimmung seiner Mitmenschen Hand anlegt an Mitmenschen , die das Leben anderer gefährden, wie in "Terror", oder die sich von ihren Mitmenschen die Lizenz erhoffen, sich selbst zu töten.

Im Untertitel des zweiten Stückes " Gott " wird dieses als zweiter Teil einer Trilogie "über aktuelle (rechts)philosophische Fragen" angekündigt. Und diese Fragen will der Jurist von Schirach aus dem Gerichtssaal weitergeben an die Bevölkerung. Aus diesem Grund ist bei beiden Stücken eine Befragung des Publikums vorgesehen.

Raus aus der Zuschauerrolle

In " Gott " soll der Zuschauer aus seiner Passivität herausgeholt werden und ganz persönlich Stellung beziehen zu der Frage, ob es einem gesunden Menschen gestattet sein darf, einen Arzt zu beauftragen, ihm ein tödliches Präparat zu beschaffen.

Es gelingt von Schirach hier wie auch in seinem ersten Stück, das, was als sehr theoretische Frage erscheint, in einer konkreten Bühnenhandlung auch für Menschen, die in rechtsphilosophischen Fragen nicht bewandert sind, begreifbar zu machen. Als Schauplatz nennt er "eine öffentliche Sitzung des deutschen Ethikrats", vor dem der konkrete Fall des 78-jährigen Richard Gärtner verhandelt wird. Darf er sich von seiner Augenärztin ein Medikament verschreiben lassen, das sein "Leben ruhig beenden könnte". Er konstatiert: "Jede Moral, jede Religion und jede Weltanschauung, die mir das verbieten will, ist falsch". Er ist gesund, will aber nach dem Tod seiner Frau nicht weiterleben.

In der Aufführung des Euro-Studios Landgraf, das mit dem Stück beim Bad Kissinger Theaterring zum Auftakt von dessen 38. Spielzeit im Kurtheater gastierte, spielte Ernst Wilhelm Lenik diesen Richard Gärtner als absoluten Sympathieträger, der seinen Entschluss ruhig und wohlbegründet dem Ethikrat vorträgt. Auch seine emotionale Betroffenheit ließ ihn Regisseur Miraz Bezar in einer sehr zurückgenommenen Gestik zeigen, als er zu Beginn das Kleid seiner toten Frau liebkost.

Die Beteiligten

Laut und heftig wird sein Verteidiger Biegler, den Christian Meyer als seinen engagierten Sachwalter eindringlich gab. Den   Ethikrat  repräsentierten Karin Boyd als dessen verständnisvoll abwägende Vorsitzende und Martin Molitor als dessen klug abwägendes und dennoch mitfühlendes Mitglied Keller. Susanne Theil überzeugte mit bestimmtem Auftreten als Rechtsachverständige Litten, während Pia Hänggi als Augenärztin Brandt, die das letale Medikament verschreiben sollte, deren hilfsbereite Freundlichkeit betonte. Das Schlussplädoyer hat von Schirach dem Darsteller von Thiel, dem theologischen Sachverständigen überlassen. Mit großem Nachdruck gab Klaus Mikoleit seiner Auffassung von der Person des Selbstmörders als typisch für den modernen Menschen Ausdruck: "... nur der Mensch sei ganz frei, der auch über seinen Tod entscheidet. Aber das ist grundfalsch." Der Vertreter der Kirche wird damit zum Gegenspieler des verzweifelten Gärtner.

Schwieriger Sachverhalt klar verständlich

Wieder ist es auch in diesem Stück von Schirach gelungen, einen ethisch schwierigen Sachverhalt in seiner ganzen Komplexität in einem kurzen Theatertext zu komprimieren. Und wieder sollten auch hier die Zuschauer selbst urteilen, wie sie entscheiden würden. Da die Abstimmung diesmal mit Handzeichen erfolgte, fand sie auch offen statt, was sie sicherlich noch schwieriger machte. 137 Stimmen gab es für Gärtners Entscheidung, 74 Zuschauer waren dagegen.

Ferdinand von Schirach hat es mit " Gott " wieder geschafft, das Publikum aus seiner Komfortzone im Theatersessel zu holen, es zu einer Entscheidung in unangenehmem Terrain zu zwingen. Die Kissinger Zuschauer machten gerne mit und feierten die Truppe am Ende mit heftigem und langem Beifall. Ein gelungener Auftakt der neuen Spielzeit!

 
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