
"Vergessen Sie das Kind, es wird nicht leben." Diese Worte erschüttern die Mutter der zweijährigen Eva, Anfang 1945, nach der Befreiung von Auschwitz. Die Prognose des Arztes erweist sich als falsch. Eva Umlauf überlebte als eine der jüngsten das Vernichtungslager.
Aus ihrem Buch "Die Nummer auf deinem Unterarm ist blau wie deine Augen" liest die inzwischen 80-Jährige auf Einladung des Münnerstädter Gymnasial-Schulleiters Peter Rottmann am Mittwoch, 25. Oktober, um 19 Uhr öffentlich im Jack-Steinberger-Gymnasium Bad Kissingen, am Donnerstag, 26. Oktober, um 11.30 Uhr schulintern im Johann-Philipp-von-Schönborn-Gymnasium Münnerstadt.
Eva Umlauf: Ich empfinde es als Auftrag, an das zu erinnern, was passiert ist. Man sieht ja aktuell, dass das "Nie wieder!" zum "Schon wieder!"changiert. Mit 80 Jahren bin ich eine der letzten lebenden Zeitzeugen. Ich habe die Kraft und im Kopf alle Sinne zusammen, um über das Geschehene zu sprechen.
Umlauf: Das Wesentliche war, dass die Transportlokomotive in unserem Zug auf dem Weg nach Auschwitz kaputtgegangen ist und wir uns deshalb um drei Tage verspätet haben. Am 31. Oktober 1944 wurden in Auschwitz noch 1689 Häftlinge aus dem Ghetto Theresienstadt ins Gas geschickt. Anfang November erhielt der Lagerkommandant Order, das Morden mit Zyklon B einzustellen. Unser Transport aus dem Arbeitslager Nováky – mit mir im Zug saßen meine schwangere Mutter und mein Vater – traf am 3. November ein. Vielleicht war es Glück, vielleicht der liebe Gott, vielleicht Zufall, das muss jeder für sich entscheiden. Wir gingen jedenfalls nicht mehr ins Gas.

Umlauf: Ich bin nicht so göttlich. Schon vor dem Holocaust ist es in der Familie meiner Mutter nicht sehr fromm zugegangen, das überträgt sich. Wir haben nur die großen jüdischen Feiertage gefeiert. Auch im Kommunismus, in dem ich nach dem Krieg aufwuchs, war der liebe Gott verboten. Aus unserer Synagoge wurde damals ein Lager für Stoffe gemacht.
Umlauf: Zuerst habe ich die braune Diktatur erlebt, dann die rote Diktatur, dann bin ich zurück ins Land der Täter. Mein Buch ist kein reines Auschwitz-Buch. Aber natürlich beeinflusste Auschwitz und mein Leben im Arbeitslager Nováky mein ganzes Leben und das Leben meiner Kinder.
Umlauf: Ich bin sicher, dass sich das Erlebte irgendwo in der Seele und im Körper festmacht, auch wenn man sich nicht bewusst erinnert. Plötzlich wird man getriggert und alles ist da. Körperlich hatte Auschwitz die Folge, dass ich meine ganze Kindheit durch oft und schlimm krank war. Sicher wurde ich auch deshalb später Kinderärztin. Erzogen wurde ich von einer überbeschützenden Mutter, die immense Angst hatte, ihre zwei Kinder zu verlieren. Auch das hat Spuren hinterlassen.
Umlauf: Meine Krankengeschichte hat mir das Auschwitz-Archiv ausgehändigt. Kaum vorstellbar, all diese Krankheiten auf einmal zu haben: Windpocken, Keuchhusten, eine beidseitige schwere Lungenentzündung, offene Tuberkulose, Rachitis - eine Knochenerweichung infolge Vitamin-D-Mangels -, eine Verkrümmung der Wirbelsäule und eine Rippfellentzündung, zu all dem Hungerödeme. Sehr viel weiß ich außerdem aus einem Interview, das meine Mutter 1965 einem Journalisten in der Slowakei gegeben hat. Ihm gegenüber war sie überraschend offen. Dank dieses Gesprächs kann ich rekonstruieren, dass ich in Auschwitz getrennt von meiner Mutter allein in der Krankenbaracke lag. Wahrscheinlich, dass ich dort auch auf den für seine menschenverachtenden medizinischen Experimente bekannten NS-Lagerarzt Josef Mengele getroffen bin.
Umlauf: Dem Journalisten beschrieb meine Mutter meine Entkräftung und ihre Verzweiflung mit diesen Worten: "Zum Tod wird sie nicht selbst gehen können, zum Tod wird sie getragen werden müssen. Wenn ich sie doch nur tragen könnte, dann würden wir gemeinsam enden!" Erzählt hat sie diese Szene übrigens nur dem Journalisten, nie mir selbst.
Umlauf: Jetzt kann man sich das nicht vorstellen, denn heutzutage wird in Familien alles besprochen. Aber damals hat man tatsächlich nicht gesprochen. Die Menschen mussten alles unter den Teppich kehren, um weiterzuleben. Geschwiegen haben übrigens sowohl Opfer als auch Täter.
Umlauf: Ich habe Spuren gesucht, in Archiven, Interviews, in Gesprächen mit anderen Zeitzeugen. Die Recherche war eine enorme Arbeit.
Umlauf: Für mich war entscheidend, zu erfahren, wie mein Vater umgekommen ist. Das konnte ich herausfinden. Zuletzt hatten wir ihn bei der Selektion an der Rampe in Auschwitz gesehen. Meine Mutter hatte die Falschinformation, dass er auf dem Todesmarsch umgekommen ist. Dem war nicht so. Er hat die tagelange Tortur des Todesmarsches noch überlebt und landete in Melk, einem Außenlager des Konzentrationslagers Mauthausen in Österreich. Dort starb er im März 1945 an einer Sepsis, etwa einen Monat vor der Geburt seiner zweiten Tochter. Seit ich das weiß, hat unsere Trauer einen Ort.
Umlauf: Nein. Letztlich hatte ich auch keine Wahl. Nachdem ich mit Jakob, einem Mann aus dem Westen, also dem Klassenfeind, Kontakt hatte, war ich ins Visier der Stasi geraten. Da war die Emigration wegen Heirat nach Deutschland wie eine Befreiung.
Umlauf: Unglaublich!
Umlauf: Vielleicht hätte man die Partei verbieten sollen. Inzwischen hat sie dafür zu viele Unterstützer. Keinesfalls dürfen die etablierten Parteien mit ihr koalieren. Meine Sorge ist, dass es CDU/CSU eines Tages doch tun werden, um an der Macht zu bleiben.
Umlauf: Es ist schon jetzt nicht mehr mein Deutschland, wenn in Berlin Palästinenser gegen Israel marschieren. Wenn in Häusern, in denen Juden leben, Davidsterne aufgesprüht werden.
Umlauf: Es passiert, was ich nicht für möglich gehalten habe. Wir merken, dass Geschichte sich wiederholt. Diese Gesichter voller Hass, die schreien und Israel ausradieren wollen. Sie schreien immer lauter und immer mutiger.
Umlauf: Es gibt verzweifelte Momente. Aber: Der Akku ist noch nicht leer.
Die Lesung in der Aula des Jack-Steinberger-Gymnasiums Bad Kissingen am Mittwoch, 25. Oktober, um 19 Uhr ist öffentlich. Eine Anmeldung unter korff.ulrike@jack-steinberger-gymnasium.de wäre hilfreich. Wer kurz entschlossen teilnehmen möchte, ist aber ebenso willkommen.