Seit 48 Jahren lebt Christine Müller in Münnerstadt. Aber auch in ihrem Heimatort Mittweida in Sachsen besitzt sie noch ein Häuschen. Kurz nach der Wende trat sie in der 15 000 Einwohner großen Kreisstadt an der Zschopau nämlich ein unerwartetes Erbe an - und kam wieder mit ihrer Familiengeschichte in Berührung. 13 Jahre lebte sie einstmals in Mittweida. Die Kindheit war unbeschwert. Heute erinnert sie sich noch gern an den großen Garten, in dem sie auf Entdeckungsreise ging und daran, als sie mit den Nachbarskindern Murmeln rollen ließ oder Haschen spielte.
Als ihr Urururgroßvater Johann Gottfried Rüdiger damals im Jahr 1803 von der Wanderschaft als Leinenweber-Meister nach Mittweida zurückkam, wollte er sein eigener Herr sein. Stolze zwölf Taler gab er für einen Webstuhl aus und gründete bald darauf ein Handelswebereigeschäft, rollt Christine Müller die Familiengeschichte auf. Er spann und webte alles selbst, später vergab er Webarbeiten. Die Ware handelte er bereits auf der Leipziger Messe.
Eine Firma mit 30 Webstühlen
1852 wurden sein Sohn Alexander Reinhard Rüdiger und sein Schwiegersohn Oswald Just Teilhaber. 1865 baute J.G. Rüdiger & Söhne, wie sich die Firma fortan nannte, eine mechanische Weberei mit 30 Webstühlen und einer 16 PS starke Dampfmaschine in einem neuen Fabrikgebäude auf. Rund 30 Jahre später erweiterte Enkel Reinhard Georg Rüdiger die Fabrikation auf 400 Webstühle.
Das Unternehmen florierte im Jahr 1898 schließlich so gut, dass der Firmenchef sich sogar Gedanken über das soziale Auskommen seiner 92 männlichen und 142 weiblichen Angestellten und Arbeiter machte. Er gründete eine Alters- und Invaliditäts-Renten-Stiftung, es gab eine Familienkrankenkasse und eine Fabrikküche. 1906 wurden zehn Doppelhäuser für langjährige Mitarbeiter und deren Familien gebaut.
1909 starb Reinhard Georg Rüdiger mit 54 Jahren, so dass sein Schwiegersohn Franz Rudolf Jacob – Müllers Großvater – von heute auf morgen die Leitung der Geschäfte übernehmen musste. Zehn Jahre später, als der Erste Weltkrieg gerade zu Ende ging, stellte sich für Jacob die Aufgabe, ein Unternehmen mit 400 Angestellten und Arbeitern durch die wirtschaftliche Krisen zu manövrieren.
Ab 1933 übernahm sein Schwiegersohn Heinrich Anton Fegter, Müllers Vater, schließlich das Unternehmen, das erneut expandierte. Baumwollgewebe, wie Barchent, Flanell, Velveton und Kattun wurden ab 1937 in der neuen Tochterfirma „F. Jacob Mittweida“ gleich zu Arbeits- und Sporthemden, Schürzen, Tischdecken und Bettwäsche verarbeitet. Und dann kam der Zweite Weltkrieg: Fegter wurde 1939 eingezogen. Da war seine Tochter Christine gerade mal ein Jahr alt. Der Vater fiel 1944 in Polen, erzählt die heutige Münnerstädterin. Ihre Mutter Hildegart blieb nach dem Krieg noch einige Jahre in Mittweida. 1949 ging sie nach Bremen und heiratete wieder. Die damals elfjährige Christine blieb noch kurze Zeit bei den Großeltern, siedelte 1951 jedoch ebenfalls nach Bremen über. Und auch die beiden Geschwister Peter und Annette kamen nach.
Unterdes kämpfte der Großvater nach dem Tod des Schwiegersohns in der damals neu entstandenen DDR um die Selbstständigkeit des Unternehmens, denn mit einem rigiden Steuer- und Abgaberecht versuchte die Deutsche Notenbank, nach Müllers Angaben, die sukzessive Enteignung privater Betriebe voran zu treiben. Am 3. März 1953 war es schließlich auch für J. G. Rüdiger & Söhne soweit: Das Konkursverfahren wurde eröffnet. Und es kam noch schlimmer: Fünf Wochen später wurde der damals 74-jährige Unternehmer wegen angeblicher Wirtschaftsverbrechen verhaftet.
Entlassung aus der Haft
Doch dann kam es am 17. Juni in der gesamten DDR zum Volksaufstand, bei dem die Bürger gegen die staatliche Bevormundung demonstrierten. Kurz darauf wurde das Strafverfahren gegen Jacob eingestellt und die Beschlagnahmung des Firmenvermögens aufgehoben. Jacob wurde aus der Haft entlassen und übernahm bald darauf erneut die Firmenleitung in Mittweida. Doch in den Folgejahren wurde es wirtschaftlich noch enger um die Firma. Jacob ahnte, dass er nun doch bald die Staatsbeteiligung an seinem Unternehmen beantragen muss. Er war 80 Jahre alt, ein Nachfolger nicht in Sicht.
1960 starb er. Die Familienmitglieder siedelten in die BRD über. Staatliche Verwalter übernahmen die Firmenleitung. Christine Müllers Mutter Hildegart erbte den väterlichen Firmenanteil und wurde Kommanditistin. Am 9. Februar 1972 wurde die Firma schließlich in Volkseigentum überführt. Damals lebte Christine Müller mit ihrer kleinen Familie bereits in Münnerstadt, nachdem sie nach der Schule die Frauenfachschule in Bremen und später die Diätschule an der Uni Münster absolviert hatte und bereits an mehreren Arbeitsstellen tätig gewesen war.
Nach der Wende kam die Familie des einstigen Firmenchefs dann doch noch zu ihrem rechtmäßigen Erbe. Denn Franz Rudolf Jacob hatte ja vormals seine Tochter Hildegart und deren drei Kinder als Erben eingesetzt. Im Jahr 1990 stellte sein Enkel Peter (Christine Müllers Bruder) bei der Treuhand einen Antrag auf Rückgabe des ursprünglichen Familieneigentums. Doch die Angelegenheit gestaltete sich schwierig. Von den Firmengebäuden in Bahnhofstraße und Schillerstraße kam nichts mehr an die Erben zurück. Drei Wohnhäuser waren jedoch in Mittweida noch vorhanden, die man den drei Enkelkindern schließlich zurückgab.