Das Winterkonzert des Bayerischen Kammerorchesters Bad Brückenau ist ja immer ein bisschen anders als die übrigen Jahreszeitenkonzerte. "Das Orchester kann wählen, ob und mit welchem Gastdirigenten es musizieren will oder ob es ganz auf einen Dirigenten verzichtet", sagte Geschäftsführer Pavol Tkac, der die Gäste begrüßte. So konnte man Johannes Moesus dieses Mal ganz entspannt im Publikum entdecken. Und wenn man seine Mimik richtig deutete, genoss er diesen freien Abend.
Seinen Job hatte ein anderer übernommen - denn es geht vielleicht ohne Dirigent, aber nicht ohne Leiter. Schließlich muss sich das Orchester ja auf eine Marschrichtung und ein Ziel einigen. Der Geiger Yasushi Ideue "aus dem Konzertmeister-Pool des Orchesters" (Pavol Tkac), also ein guter Bekannter, hatte sich ein ziemliches Paket auf den Rücken geladen: Erst war er Solist bei Antonio Vivaldis "Vier Jahreszeiten ", dann leitete er vom 1. Pult aus "Souvenir de Florence" von Peter Tschaikowsky. Da brauchte es eine gute Kondition.
Originell und entspannt
Vivaldis "Vier Jahreszeiten " sind ja eigentlich ziemlich abgenudelt. Eine Zeitlang, als die Forschung erst allmählich einsetzte, galten sie als das Symbol der italienischen Barockmusik schlechthin, wurden zu allen passenden und unpassenden Gelegenheiten gespielt. Das hat sich mit zunehmenden Alternativen geändert, und mittlerweile ist auch die Werbung wieder ein paar Haustüren weitergezogen. Es war nicht unbedingt zu erwarten, dass man die Brückenauer " Jahreszeiten " derart würde genießen können. Yasushi Ideue und seine Leute hatten sich nicht dem Druck ausgesetzt, in irgendeiner Weise originell zu sein, zu spielen wie... Aber gerade dadurch wurden sie originell und entspannt. Sie zeigten, wie man mit modernen Instrumenten und Bögen und moderner Spieltechnik Vivaldi ganz nahe kommen kann. Yasushi Ideue stellte als Solist nicht sich, sondern die Musik in den Vordergrund. Er spielte mit souveräner Virtuosität und Unaufgeregtheit, zeichnete wunderbare Bilder nach der Natur, vor allem die nicht nur bei Vivaldi so beliebten zwitschernden Vögel, oder die beim Tanz immer trunkener werden Landbevölkerung , die die Texte der zugrunde liegenden Sonette wunderbar illustrierten. Und er hatte die Freiheit, viele Verzierungen zu improvisieren, wie das damals üblich war, aber heute ein wenig in Vergessenheit geraten ist.
Das Orchester nahm diesen Kurs auf, trat in einen engen Dialog mit dem Solisten, lieferte Stimmungsgrundierungen von Gewitter, lastender Hitze, gemütlichem Kaminfeuer oder dem berühmten schnarchenden Hirtenhund. Da entwickelte sich bereits, wie später bei Haydns " Jahreszeiten ", ein Bild vom Landleben, das damals schon wenig mit der rauen Realität, aber sehr viel mit aufklärerischen Idealen zu tun hat - aber so abwechslungsreich, dass man gar nicht gemerkt hatte, dass man zwölf Sätze in vier Konzerten gehört hatte.
Jammern auf hohem Niveau
Aber es gab auch kleine Stellen, die mit Dirigent anders geklungen hätten - klar, dass das absolutes Luxusjammern ist. Da war der mitreißende Schwung, der sich durch das ganze Werk zog, ein kleines bisschen verhalten, weil sozusagen der eine auf den anderen wartete. Johannes Moesus hätte hier sicher organisatorischen Druck gemacht. Aber, mein Gott, das waren vielleicht zehn Takte!
Die Pause bedeutete Umbau, denn jetzt wurde es hochromantisch. Bei Peter Tschaikowskys Streichsextett "Souvenir de Florence" hätte das Cembalo als Klangfacette und Möbel zwischendrin gestört. Aber auch vier Geigen hatten Feierabend. Dazu kamen eine vierte Bratsche und ein Violoncello. Denn Yasushi Ideue hatte nicht die Originalfassung für zwei Violinen, zwei Violen und zwei Violoncelli gewählt, sondern eine Bearbeitung für Streichorchester, von denen es einige gibt, weil sich die Musik in ihrer komplexen Anlage so gut sinfonisch vergrößern lässt. Ein Vorteil: Da ist dann auch dem 1. Violoncello der Kontrabass zugeordnet, der das Klangspektrum nach unten erweitert und damit für eine gewisse Erdung sorgt.
Wirkungsvoller Effekt
Allerdings hatte Yasushi Ideue das Streichorchester auf ein Doppelquartett reduziert, jede Stimme war zweifach besetzt. Das war durchaus mutig und nicht ganz risikolos, weil zwei Stimmen sich im Gegensatz zu drei oder mehr wesentlich schlechter mischen und synchronisieren lassen. Aber man muss da den Brückenauern ein Riesenkompliment machen. Bei ihnen funktionierte das von ganz ausgezeichnet bis hervorragend. Zudem hatte Ideue die Partner jeder Einzelstimme nicht nebeneinander, sondern hintereinander gesetzt. Das hatte einen spürbaren, wirkungsvollen Effekt: Der Gesamtklang war nicht in die Breite von zwölf Streichern aufgefächert, sondern stark komprimiert und wirkungsmächtig.
Das Ensemble wusste das, spielte aus dem Stand heraus, ohne Hineintasten, mit enormem emotionalem und klanglichem Druck die kraftvolle Exposition. Man konnte die Geschichte glauben, dass Tschaikowsky noch unter dem mitleidenden Eindruck stand, den der Selbstmord des Hermann am Ende seiner gerade fertiggestellten Oper "Pique Dame" quälend hinterlassen hatte. Aber man spürte auch den Druck der heiteren Erinnerungen, mit denen der Komponist an seinen Florenzaufenthalt dachte. Dem streichenden Dutzend (wie heißt um Himmels willen die Verdoppelung von Sextett? Duodecimett gibt´s ja nicht!) gelang es sehr plastisch, zwei wesentliche Aspekte des Werkes zu zeigen: zum einen die enorme Fülle kompositorischer Techniken, dies sich in der sehr starken Kontrapunktik oder in der Doppelfuge im letzten Satz zeigten. Aber Tschaikowsky musste sich gegen eine mächtige Konkurrenz vor allem von Brahms beweisen. Und zum anderen, dass es in dem belastenden Leben des Komponisten tatsächlich auch Momente gab, in denen ihn die gute Laune und der Humor überwältigten. Diesen Humor und die kompositorische Dichte mit einer immer konturenscharfen Klangfülle unter einen Hut zu bringen, war die Sensation des Abends. Da hätte Johannes Moesus sicher gerne dirigiert. Nötig gewesen wäre es nicht.