Natürlich war die Stimmung gut, und sie wurde immer besser, je weiter man sich dem Kursaalgebäude näherte. War ja auch verständlich: Das erste Konzert des Bayerischen Kammerorchesters in diesem Jahr und das letzte so weit weg, dass man sich an einen Termin gar nicht mehr erinnern konnte. Man freute sich nicht nur auf die Musik, sondern auch darauf, wieder Leute zu treffen, die man bei den früheren Konzerten immer getroffen hatte - und auch hinter ihren Masken sofort wiedererkannte.
Und doch schwang auch etwas Skepsis mit: Ob es nach diesem ersten Konzert bald auch ein zweites geben würde. Denn stabil sind die Verhältnisse angesichts der Diskussionen über eine vierte Welle ja nun wirklich nicht. Aber die Freude setzte sich ziemlich schnell durch.
Für die Musiker war das ja auch keine gewöhnliche Situation. Für sie war es auch nach einer langen Dürreperiode und einem Gastspiel beim Würzburger Mozartfest erst das zweite Konzert in diesem Jahr. Wenn man bedenkt, dass man als junger Mensch schon die sechswöchigen Sommerferien - uneingestanden - eigentlich als zu lang empfunden hat, kann man sich vorstellen, was in den Musikern vorgegangen sein muss. Denn schließlich sind sie angetreten, um nicht nur gemeinsam zu musizieren, sondern vor allem für ein Publikum. Und wenn beides nicht möglich ist ...
Es war erstaunlich, wie wenig dem Orchester die Phase der Wiedergewöhnung anzumerken und anzuhören war. Am deutlichsten wurde sie beim absolut ernsthaften, voll fokussierten Auftritt. Da wurde früher auch schon mal gelächelt oder gelacht.
Da ist man sofort "drin"
Albrecht Mayer hatten die Brückenauer als Solisten und auch als Dirigenten eingeladen. Und das bedeutete Oboe- beziehungsweise, um genauer zu sein, Oboe d'amore, eine kleine Terz tiefere Altoboe (ein schönes Wort, um drüber zu stolpern). Er spielte keine Originalkompositionen, sondern Bearbeitungen von zwei der bekanntesten Werke von Wolfgang Amadeus Mozart : die Kantate "Exsultate, jubilate" und das "Ave verum corpus", wobei die Oboe jeweils den sängerischen Part übernommen hatte.
Für das Orchester war das "Exsultate" eine gute Wahl, denn das spielt ein Musiker auch, wenn er morgens um 4 Uhr aus dem Tiefschlaf geweckt wird. Das ist musikalisch so mitreißend, dass man sofort "drin" ist. Und das Orchester wusste auch ganz genau, was wie zu spielen oder zu betonen ist, um diesen Schwung aufzubauen und bis zur Schlussfermate zu bringen. Gut waren sie alle - trotzdem aber mal ein Kompliment an die tiefe Gruppe als Trägerin dieses Schwungs.
Natürlich blies Albrecht Mayer, wie man es von ihm erwartet hatte: mit einem tollen Ansatz, mit einem wunderbaren Ton, sehr sanglich - wobei die Oboe d'amore natürlich den Vorteil hat, dass sie genau im Bereich der menschlichen (Mezzo-)Sopranstimme liegt - und die hatte auch der Kastrat Venanzio Rauzzini, der Sänger der Uraufführung. Und er spielte ganz lange Bögen. Das klang alles ganz wunderbar.
Lange Bögen
Aber es schlichen sich Zweifel ein. Zum einen, weil der Text wirklich fehlte und die Musik in den Bereich des Absoluten, Distanzierten gerückt wurde. Es fehlte das Staunen darüber, dass man ein Gottes- oder Marienlob ganz gegen den Geist der Gebetsmühlen derart heiter und persönlich gestalten kann. Zum anderen waren es genau die langen Bögen, die Albrecht Mayer so wunderbar seinem Instrument entlockte.
Die Oboisten haben etwas, worum sie von den Sängern beneidet werden - die Permanentatmung: Luft in die Backen pumpen und durch das Instrument herauspressen und gleichzeitig Luft durch die Nase nachfüllen. Was dadurch verschwand, waren die Atemzäsuren der Sänger , die die Musik strukturieren und spannend machen, Stellen, an denen sich ein gefesseltes Publikum auch zu atmen traut. So wurde die Musik, anders als geplant, etwas Absolutes, Austauschbares, Unverbindliches, allerdings auf bewundernswertem Niveau.
Das galt auch für das "Ave verum corpus". Dadurch, dass die Oboe den Chor ersetzte und die Musik damit inhalts- und anlassfrei machte, wurde sie beliebig. Und da sich die Aufmerksamkeit nur noch auf den kompositorischen Aspekt richten musste, merkte man, dass diese Motette für Mozart so etwas wie eine harmonische, aber höchst wohlklingende Fingerübung war. Da war die Zugabe durchaus ein Weckruf. In der Arie "Lascia ch'io pianga" aus Georg Friedrich Händels erster Oper "Almira, Königin von Castilien" war der Text zwar auch verschwunden.
Aber Albrecht Mayer spielte die Melodielinie nach der anfänglich hochemotionalen Schlichtheit mit immer freier werdenden raffinierten Verzierungen (das Seufzen überließ er dem Orchester ), dass etwas vollkommen Anderes, Neues entstand. Da war es plötzlich die Virtuosität, die Aufmerksamkeit und Spannung erzeugte.
Zwei neue Namen
Das Rahmenprogramm war schon deshalb interessant, weil es, wie man das von den Brückenauern gewöhnt ist, zwei neue Namen ins Spiel brachte, Komponisten , die man heute gerne als "zu Unrecht vergessen" bezeichnet. Natürlich ist das eine Behauptung der Tonträgerbranche, aber manchmal stimmt es ja auch. Der alte Bach war schließlich auch mal vergessen. Aber der französische Frühklassiker Simon Le Duc (1742 - 1777) mit seiner Sinfonie Nr. 3 Es-dur und der Spätromantiker und Brahmsepigonen Robert Fuchs (1847 - 1927) mit seiner Serenade Nr. 4 op. 51 sind wohl in eine Grauzone geraten. Immerhin waren sie zu Lebzeiten recht bekannt.
Le Ducs Sinfonie hatte durchaus gute Ideen, kam mit ihnen in der Verarbeitung aus dem Konventionellen nicht wirklich hinaus, hielt nur wenige Überraschungen bereit, wobei der langsame Mittelsatz mit seinen getrennten Ebenen der Melodie und der Begleitung ganz klar musiziert war und der dramatisch etwas aufgebrezelte Schlusssatz trotz allem nie seinen tänzerischen Charakter verlor.
Kräftige Klangwolken
Bei Robert Fuchs und seiner Serenade konnte man angesichts kräftiger Klangwolken, die sich aus einem Pulsieren entwickelten, und angesichts des Plaudertons, den das Allegretto grazioso anstimmte, schon einiges erwarten. Aber entweder konnte Fuchs mit seinen Ideen nicht viel anfangen, oder er hatte nicht genug. Denn alle Sätze verloren sich in den Wiederholungen der gefundenen Themen.
Vielleicht hätte ein Vollzeit-Dirigent in Zusammenarbeit mit dem Orchester noch etwas mehr an Spannung herausholen können. Aber nur mit einer ausgeprägten Schwarz-Weiß-Dynamik war nicht allzu viel zu machen. Es war unüberhörbar, dass die Spätromantik einen Punkt erreicht hatte, an dem etwas Neues kommen musste. Das war ein durchaus interessanter Aspekt.