„Schurkenstück“, „Manipulation“, „Angriff auf die Demokratie“: Bei der Diskussion um die Reform des Wahlrechts am 17. März flogen im Bundestag die Fetzen. Am Ende drückte die Ampel-Regierung ein neues Wahlrecht durch, CSU und Linke kündigten einhellig Verfassungsklagen an.
Die CDU legte sich bereits fest, dass sie im Falle einer Regierungsbeteiligung das Wahlrecht nach der nächsten Bundestagswahl wieder ändert.
Der Teufel steckt im Detail
Wählen erscheint zunächst ganz einfach: Max und Anna wollen beide Klassensprecher werden, die Klasse hat 25 Schüler, wer also mindestens 13 Stimmen bekommt, ist gewählt. Schwieriger wird’s bereits, wenn Lena als dritte Kandidatin antritt.
Ist Max dann schon gewählt, wenn er zehn Stimmen bekommt, Anna aber nur neun und Lena nur sechs? Oder gibt es zwischen den beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen eine Stichwahl, also zwischen Max und Anna? Schließlich könnte Anna ja alle Stimmen von Lena dazu bekommen, weil die Mädchen zusammenhalten?
„Personalisiertes Verhältniswahlrecht“
Genau für solche Fälle muss es lange genug vor jeder Wahl ein Wahlrecht geben. In der Bundesrepublik wurde das Wahlrecht im Wesentlichen vor der Bundestagswahl 1953 festgelegt. Bezeichnet wird es als „personalisiertes Verhältniswahlrecht“.
Grob gesagt, gibt es ein Mehrheitswahlrecht in den Stimmkreisen (Erststimme), ein Verhältniswahlrecht für die Zusammensetzung des Bundestages (Zweitstimme) und Regelungen, damit alle Bundesländer entsprechend ihrer Größe vertreten sind.
Veränderungen am Wahlrecht gab es immer wieder: Vor der Bundestagswahl 1972 wurde etwa das Wahlalter von 21 auf 18 Jahre gesenkt. Warum ist jetzt eine weitere Änderung notwendig? Das bisherige Wahlrecht basiert auf der Annahme, dass die aktuell 299 Wahlkreise in Deutschland in etwa so vergeben werden, wie sich die Sitze im Bundestag sowieso verteilen würden.
Schwierig bei sechs Fraktionen
Das funktioniert gut bei wenigen großen Parteien im Parlament. Der aktuelle Bundestag setzt sich jedoch aus sechs Fraktionen zusammen, die FDP hat gar kein Direktmandat, Grüne und AfD jeweils 16. Den Löwenanteil der Direktmandate teilen sich Union (143) und SPD (121), obwohl sie bei der Wahl nur 24,1 beziehungsweise 25,7 Prozent der Zweitstimmen holten.
Weil bisher der Grundsatz galt, dass die Direktkandidaten auf alle Fälle in den Bundestag einziehen, begann nach der Wahl das große Rechnen: Der Bundestag wird soweit aufgefüllt, bis die Direktmandate in jedem Bundesland im Wesentlichen dem Zweitstimmenergebnis entsprechen.
Die CSU profitierte am stärksten
Konkret in Bayern: Die CSU holte 45 der 46 möglichen Direktmandate, allerdings „nur“ 31,7 Prozent der Zweitstimmen. Bei eigentlich 92 Bundestagsabgeordneten aus Bayern würden der CSU im Verhältniswahlrecht somit nur 34 Sitze zustehen.
Also wurde aufgestockt, und zwar auf 117 bayerische Abgeordnete: elf so genannte Überhangmandate der CSU und weitere 14 „Ausgleichsmandate“, damit das große Ganze wieder passt. Wobei nach einer kleinen Reform nicht einmal alle Mandate ausgeglichen wurden.
Dazu kam bisher eine Ausnahme für kleinere Parteien, die Grundmandatsklausel: Gewinnt eine Partei bundesweit mindestens drei Direktmandate, zieht sie entsprechend ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag ein, auch wenn sie nicht über die Fünf-Prozent-Hürde kommt. Heißt aktuell bei der Linken: Zu den errungenen drei Direktmandaten kommen 36 weitere Abgeordnete dazu.
Bundestag wäre weiter gewachsen
Das alles hat dazu geführt, dass im aktuellen Bundestag anstelle von 598 Abgeordneten 736 sitzen. Damit ist er das größte demokratisch gewählte Parlament weltweit. Das macht den Bundestag nicht nur teuer, sondern auch Beratungen immer schwieriger.
Im neuen Wahlrecht sind nun die Grundmandatsklausel gestrichen und von den Direktkandidaten ziehen pro Bundesland nur noch die mit den meisten Erststimmen entsprechend dem Gesamtergebnis ihrer Partei in den Bundestag ein. Die Größe des Bundestags ist zudem auf 630 beschränkt. Alle drei Abgeordneten aus dem Wahlkreis Bad Kissingen würden mit den Ergebnissen aus 2021 trotz Reform im Bundestag sitzen.
Das sagt Dorothee Bär
Das Bild im Wahlkreis ist eindeutig: Direktkandidatin Dorothee Bär ( CSU ) kritisiert die Wahlrechtsreform , die Abgeordneten aus Regierungsfraktionen verteidigen sie. „Alle Parteien im Deutschen Bundestag sind sich einig, dass die Zahl der Abgeordneten dringend reduziert werden muss“, sagt Bär .
Die jetzige Wahlrechtsreform schwäche allerdings die direkte Demokratie zu Gunsten der Parteilisten: „Zukünftig ist für den Abgeordneten wichtiger, was der eigene Parteivorsitzende von ihm hält, als was die Menschen in seiner Heimat denken.“ Bär bemängelt vor allem, dass die Regierung die Reform ohne die Opposition beschlossen habe.
Die große Koalition aus Union und SPD wollte laut Bär die Zahl der Wahlkreise ab dem Jahr 2025 auf 280 reduzieren wollte, das hätte den Bundestag deutlich verkleinert. Laut Bär bereitet die CSU aktuell die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht vor. Dass es im bayerischen Wahlrecht weder eine Grundmandatsklausel, noch einen Ausglich zwischen den Bezirken gibt, sieht Bär nicht als Problem an: Sie verweist darauf, dass in Bayern Erst- und Zweitstimmen für das Gesamtergebnis zusammengezählt werden. Erststimmen würden also auch die Sitzverteilung beeinflussen. „Die Wahlsysteme sind daher nicht vergleichbar.“
Das sagt Sabine Dittmar
„Eine Reform war nötig und unumgänglich“, sagt Sabine Dittmar ( SPD ). Nur so bleibe der Bundestag handlungsfähig. „Unser Wahlrecht, das hat auch das Verfassungsgericht bestätigt, ist dem Grundcharakter nach eine Verhältniswahl“, betont Dittmar. Das Zweitstimmenergebnis repräsentiere den politischen Willen des Gesamtvolkes.
„Wenn es nach der SPD gegangen wäre, dann hätte es eine Wahlrechtsreform schon deutlich früher gegeben“, verweist Dittmar zudem darauf, dass vor allem die CSU alle bisherigen Vorschläge abgelehnt habe, weil es ihr „stets nur um den eigenen Vorteil ging“.
Das sagt Manuela Rottmann
Grüne, FDP und Linke hätten bereits 2019 eine Wahlrechtsreform vorgeschlagen, berichtet Manuela Rottmann (Grüne). „Union und SPD haben sich in der letzten Wahlperiode aber nur auf ein Minireförmchen einigen können, das am Grundproblem nichts ändert.“ Rottmann selbst wäre eine Verkleinerung auf 598 Abgeordnete lieber gewesen. 630 seien aber ein guter Kompromiss: „Wir können nicht den Bürgerinnen und Bürgern Veränderungen abverlangen, nur bei uns selbst ist uns die Jacke dann immer näher als die Hose.“
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