
Nach zweijähriger Pause lädt die Bezirksgruppe Rhön/Saale des Wirtschaftsbeirats Bayern, der als politisch unabhängiger Berufsverband die Interessen von 1800 Unternehmerinnen und Unternehmern sowie Führungskräften aus Wirtschaft und freien Berufen vertritt, seine Mitglieder sowie die interessierte Öffentlichkeit wieder zu einem Dialogforum am Donnerstag, 27. April, um 19.30 Uhr in den Sparkassen-Pavillon (Von-Hessing-Straße 10) in Bad Kissingen . Als Redner des Abends wird der Präsident des Europäischen Wirtschaftssenat (EWS), Dr. Ingo Friedrich (81, CSU), von 1979 bis 2009 Abgeordneter des EU-Parlaments sowie von 1999 bis 2007 dessen Vizepräsident , zum Thema „Deutschland und Europa nach der Zeitenwende – schafft das der Mittelstand ?“ sprechen. Zur Einstimmung auf den Abend haben wir ihm schon vorab einige Fragen gestellt.
Herr Dr. Friedrich, Sie sind Präsident des Europäischen Wirtschaftssenats (EWS). Was ist der EWS und welche Aufgaben und Ziele hat er?
Ingo Friedrich Der EWS ist ein Zusammenschluss von Unternehmerinnen und Unternehmern, die sich dem Prinzip des ehrbaren Kaufmanns verpflichtet fühlen und die ihre Ideen und Erfahrungen an die Politik weitergeben wollen. Das übergeordnete Ziel ist eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik in Deutschland und Europa auf Grundlage der sozialen Marktwirtschaft. Unser Motto: Neue Wirtschaftskompetenz für Europa!
Seit Jahren klagen vor allem die mittelständische Wirtschaft, der Einzelhandel und das Handwerk über den zunehmenden Fachkräftemangel . Mit welchen Folgen müssen wir rechnen?
Die Folgen des Fachkräftemangels sind fatal: Gefährdung des wirtschaftlichen Wachstums, Rückgang der Produktivität und der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Und: Fehlende Handwerkerleistungen treffen praktisch alle Bürger und erschweren deren Leben.
Die Gegenstrategie muss lauten: Ausbildungsberufe finanziell und imagemäßig deutlich attraktiver machen, gezielt Fachkräfte aus dem Ausland anwerben, Ausbildung interessanter gestalten und mit modernen Inhalten ergänzen – höhere Sinngebung und Sinnstiftug für die jungen Menschen von heute.
Aktuell werden Robotik und Künstliche Intelligenz (KI) heiß diskutiert. Kann deren Einsatz helfen, das Problem des Arbeitskräfte- und Fachkräftemangels zu beheben?
Erste Umfragen und Analysen zeigen, dass Unternehmen, die KI nutzen und digitalisiert arbeiten, bereits jetzt produktiver und rentabler sind als Firmen, die das nicht tun. Diese neuen Techniken werden zwar bestimmte Arbeitsplätze abschaffen, dafür aber auch neue schaffen. Zur Lösung des Fachkräftemangels taugen sie nur sehr bedingt und nur in einigen Bereichen.
Der Anstieg der Inflation, der Lohn- sowie Energie- und Beschaffungskosten macht vor allem dem Mittelstand zu schaffen. Ist dessen Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Handel dadurch gefährdet?
Eindeutig ja! Wenn in Deutschland Energie- und Stromkosten weiterhin doppelt so teuer bleiben wie in wichtigen anderen Staaten, hat dies dramatische Auswirkungen auf den ganzen Wirtschafts- und Industriestandort Deutschland. Erste Abwanderungen aus Deutschland zeichnen sich ab. Vor diesem Hintergrund war die schnelle Abschaltung der Atomkraftwerke ein unverzeihlicher Fehler, der – soweit irgendwie möglich – korrigiert werden muss.
Durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine sind der deutschen Wirtschaft konkrete Absatzmärkte weggebrochen. Muss sich der Mittelstand darauf einstellen, diese Märkte auch nach Kriegsende auf viele Jahre oder sogar für immer verloren zu haben? Wie wirken sich die aktuellen Wirtschaftssanktionen im Mittelstand aus?
Wirtschaftssanktionen haben immer auch ungewollte negative Rückwirkungen auf die eigene Wirtschaft. Darunter leidet auch der deutsche und europäische Mittelstand . Die Wiedererreichbarkeit des russischen Marktes ist vom jeweiligen Ausgang des Krieges abhängig: Wenn eine Friedensvereinbarung geschlossen wird, die das souveräne Existenzrecht der Ukraine garantiert und von der Ukraine selbst akzeptiert wird – einschließlich Schadensersatzleistungen seitens Russlands – dann können die wirtschaftlichen Warenlieferungen wieder zügig aufgenommen werden – auch für den Wiederaufbau der Ukraine.
Die geopolitische Lage hat sich in vergangenen Jahren verändert, das Machtgefüge hat sich verschoben. Autokratisches und protektionistisches Handeln einzelner Länder beeinträchtigen den freien Welthandel . Welche Auswirkungen hat dies auf unsere mittelständische Wirtschaft? Müssen Produktionsstätten und Lieferketten überdacht und entsprechend angepasst werden?
Grundsätzlich neu sind der globale Anspruch Chinas und die Zunahme autokratischer Staatenlenker. Diese Entwicklungen gefährden die Strahlkraft der Demokratien weltweit und reduzieren die Stabilität und Planbarkeit wirtschaftlicher Investitionen. Deshalb müssen entstehende Risiken insbesondere im Verhältnis mit China reduziert werden.
Eine völlige wirtschaftliche Abkoppelung von China ist in absehbarer Zeit nicht machbar. Wir müssen auch unseren „moralischen Zeigefinger“ etwas weniger offensichtlich vor uns hertragen, wenn wir unsere Handelsbeziehungen nicht gefährden wollen.
Von diesen globalen Fragen wird leider auch der Mittelstand unmittelbar betroffen. Kluge Hilfen des Staates sind deshalb absolut notwendig. Gleichzeitig ist aber auch der Ideenreichtum und das besondere Organisationstalent der mittelständischen Wirtschaft gefordert.
Kann unser System der sozialen Marktwirtschaft im Sinne Ludwig Erhards angesichts der veränderten Weltlage langfristig weiterbestehen oder muss Deutschland eventuell umdenken?
Die soziale Marktwirtschaft ist nach wie vor aktuell und zielführend. Angesichts des großen Erfolgs in Deutschland wird diese geniale Kombination von wirtschaftlicher Effizienz und sozialer Sensibilität auch international bewundert und als vorbildlich betrachtet. Aus heutiger Sicht braucht das Modell Ludwig Erhards allerdings eine Erweiterung um die Klima- und Umweltthematik sowie eine Komponente der Sinnstiftung. Gerade junge Mitarbeiter wollen am Arbeitsplatz das Gefühl haben, an einer sinnvollen Sache mitzuwirken.
Die mittelständische Wirtschaft sieht aufgrund der oben genannten Probleme mit Sorge in die Zukunft und hofft auf staatliche Hilfe. Aber kann allein der Staat die Lösung bieten und durch finanzielle Hilfen die angespannte Situation entschärfen?
Der Staat hat derzeit noch die Kapazität, die notwendigen Hilfen zu geben. Die Staatsverschuldung hat zwar inzwischen die angestrebten 60 Prozent deutlich überschritten, aber in Krisenzeiten ist dies zeitweise zu akzeptieren. Allerdings weist das atemberaubende Tempo der Neuverschuldung darauf hin, dass die akzeptierbaren Grenzen sehr bald erreicht sein werden. Finanzminister Christian Lindner muss sofort umsteuern, wenn nicht alles ins Rutschen kommen soll.
Ist die derzeitige Ampel-Regierung aus Sicht der mittelständischen Wirtschaft im Großen und Ganzen auf dem richtigen Kurs?
Leider nein. Im Vergleich zu den USA – man denke nur an das 300-Milliarden-Dollar-Paket IRA – oder zu Nachbarländern, die auch wegen der Atomkraft deutlich niedrigere Energiepreise haben, muss der gesamte Kurs der Regierung hinterfragt und neu justiert werden. Ganz konkret: Der Einfluss der Grünen ist in dieser Regierung völlig überdimensioniert und schadet bereits jetzt dem mittelständischem Wirtschaftsstandort Deutschland.
Sie waren 30 Jahre lang Abgeordneter des EU-Parlaments und von 1999 bis 2007 einer seiner Vizepräsidenten, deshalb noch eine Frage zur Europäischen Union: Hin und wieder wird Kritik an der Reglementierung durch die EU laut. Manche wünschen sich schon den Austritt Deutschlands. Ist die Europäische Union in ihrer jetzigen Form noch zeitgemäß?
In meinem Referat werde ich auch darauf hinweisen, wie falsch radikale Parteien wie etwa die AfD bezüglich dem Euro und Europa liegen: Ohne Euro und ohne den Europäischen Zusammenhalt wären wir längst Spielball anderer Supermächte. Deshalb muss auch die militärische Zusammenarbeit Europas – Stichwort „Europäische Armee“ – angegangen und das hemmende Einstimmigkeitsprinzip der EU überdacht werden. Heute ist ein Erfolg europäischer Politik auch ein Erfolg Deutschlands und umgekehrt.
Das Gespräch führte
Sigismund von Dobschütz.