Es war eine Kulturrevolution, die sich Ende der 60er Jahre in der bäuerlich geprägten Altstadt abspielte. Ungewohnte Töne hallten an den Wochenenden abends durch den Saal des Gasthauses „Zum Löwen“: Rolling Stones, Frank Zappa, Doors. Reichlich schrill für Blasmusik gewohnte Ohren jener Tage. Wie auch die Karawane langhaariger Gäste, die das Spektakel zunehmend in die Bahnhofstraße lockte.
Schnell war die Diskothek Eisdiele legendär. Ihr Einzugsgebiet reichte von Würzburg bis Fulda. „Viele Einheimische haben die Straßenseite gewechselt“, erinnert sich Manfred Gerlach zur Reaktion auf die ungewohnten Nachtschwärmer.
Unter der Last von bis zu 300 Diskotheken-Gästen bogen sich fast die Bodenbalken in dem Tanzsaal. Zu ihrem Namen kam die Eisdiele durch die Familie Cappeletti, die in dem Gasthaus „Zum Löwen“ ihr erstes Eis anbot. Sie ergriff die erste Initiative für eine Diskothek. Dann führte sie Elias Yayannis unter rockiger Ausrichtung weiter.
Gerlach war mit kurzer Pause von Mitte der 70er Jahre bis zur Schließung der Eisdiele 1998 Geschäftsführer. Als Grenzgänger zwischen den Kulturen erinnert er sich gerne zurück. Seine Freude am Musizieren lebte er bei der Stadtkapelle aus. Wegen seiner langen Haare war er häufig Schmähungen ausgesetzt. Bis er sie unter einer Kurzhaar-Perücke versteckte.
Emotionale Freiheit entdeckte der Gymnasiast mit Schulkollegen zu den Klängen von Rockmusik. Angetreten habe er den Geschäftsführer-Job nur, weil er den Motorschaden an seinem Auto während einer Südeuropa-Reise abarbeiten musste. Für Vertrauen zu der Diskothek sollten anfangs Preisschafkopfe, Schachturniere und später Jugendtänze sorgen.
„Ich bin heute dankbar, dabei gewesen zu sein“, bilanziert er die wilden Siebziger. Der unkonventionelle Geist jener Tage habe die Gesellschaft weitergebracht und ihm samt etlicher Mitstreiter zu beruflichen Erfolgen geführt.
Heute ist er 58-Jährige eine weltweit anerkannte Kapazität der Universität Würzburg in der Parkinson- und ADHS-Forschung und weilt gerade bei einem Kongress in Australien. Alltagsenglisch bescherte seinerzeit an den Wochenenden die Diskothek Eisdiele der Altstadt. Sie lockte auch US-Soldaten, die in Bad Kissingen ihren Dienst versahen. „Der erste Bus mit schwarzen GIs war eine Sensation“, erinnert sich Gerlach. Vom Marktplatz liefen die viel bestaunten und wohl ein bisschen gefürchteten Besucher zu dem Lokal.
Hammelburg war auch deshalb gefragt, weil die Eisdiele den GIs offen stand. Denn „Off limits“ hieß es in vielen anderen Lokalen der Region. US-Soldaten mussten draußen bleiben. Die Eisdiele war liberaler. Außer lauter Musik und spärlich gepolsterten Holzbänken zwischen Fachwerkbalken sowie einer Bar gab es wenig. Natürlich stimmungsvolle Schummrigkeit, erhellt nur von einer Lichtorgel. Sie tauchte den Saal im Rhythmus der Musik in Rot, Gelb, Grün oder Blau. Später kam noch eine Nebelmaschine dazu. Spärlich auch die Karte: Bier, Asbach-Cola, Persiko und Apfelkorn gingen am besten. Als Erstes weit und breit sei Kristallweizen ausgeschenkt worden, weiß Gerlach. Eingeprägt hat sich vielen Besuchern eine Pferdekutsche, die inzwischen in den Fundus des Stadtmuseums aufgenommen ist.
Wenn schon nur eine einfache Einrichtung, so gab es schnell jede Menge Gerüchte. „Wir waren in den Augen vieler eine Haschbude“, erinnert sich Gerlach heute. Immer wieder habe es Kontrollen von Zivilstreifen gegeben. Sie hätten aber nichts Verwertbares ans Tageslicht gebracht. Überhaupt sei damals alles sehr brav gewesen: „Wir sind ganz ohne Türsteher ausgekommen“, so Gerlach.
Natürlich gab es auch mal eine Schlägerei. Zwischen Einheimischen oder Fremden. „Die Schwarzen waren es gewohnt, die Frauen zum Tanzen aufzufordern. Das kam nicht immer gut an.“ Bald wurde kein Soul mehr gespielt, der die Gefühle besonders in Wallung brachte. In Erinnerung hat Gerlach auch folgende Begebenheit: Ein kurzsichtiger US-Soldat holte erst nach vier Wochen seine vergessene Brille wieder ab. Mit dem Eingeständnis, im Manöver immer daneben geschossen zu haben.
Eher gespannt war das Verhältnis zur Diskothek Kupferkanne. Die spielte die Hitparaden rauf und runter. Langhaarige Eisdielen-Gäste durften nicht rein. Dort tanzten vor allem Bundeswehr-Soldaten in gepflegtem Ambiente.
Insgesamt war das kneipentechnisch eine glückliche Zeit, zumal es auch noch die Diskothek Bayerischer Hof gab. Die Eisdiele überlebte alle. Bis 1998, und das fast ohne Umbauten. „Entscheidend war die Musik“, resümiert Gerlach. Ihrem Stil ist die Eisdiele bis zur Schließung treu geblieben. Von der Außenseiter-Diskothek wandelte sie sich zum Kultobjekt. Am Ende gingen sogar Eltern mit ihren Kindern hin. Doch die Sommer wurden zunehmend zu Durststrecken mit rückläufigen Besucherzahlen. Dann folgte der Schnitt.
Dankbar ist Gerlach rückblickend für die relative Toleranz, die das frühere Hammelburg der Eisdiele entgegenbrachte: „Uns hat niemand reingeredet.“ Ein Glücksfall sei auch der Bestandschutz gewesen, so der Schwiegersohn des zweiten Bürgermeisters und Stadtkapellmeisters Otto Zeier. „So eine Diskothek im innerstädtischen Umfeld, heute undenkbar“, so Gerlach. Das Disco-Faible liegt bei Gerlachs wohl in der Familie. Seine Frau Rosi, schon in der Eisdiele dabei, führt seit Jahren die Diskothek Labyrinth in Würzburg.