
Lea Friedrich ist 28 Jahre alt. Läuft alles normal, wird sie bis zur Rente noch länger arbeiten, als sie bisher auf der Welt ist. Sie arbeitet in der Pflege und damit in einem Beruf, der sie oft an ihre Belastungsgrenzen und darüber hinaus bringt. Sie sagt einen Satz, der in dem Umfeld nicht unbedingt typisch ist: "Die Vorstellung, dass ich mein Leben lang pflegen kann, ist sehr schön", sagt sie. Der Beruf sei sehr erfüllend, sie brauche das.
Lea Friedrich stammt aus Oberthulba. Nach dem Abitur in Bad Kissingen hat es sie zum Studium nach Berlin verschlagen. Die Karriere am Theater verwarf sie jedoch bald wieder - und machte stattdessen eine Ausbildung in der Pflege. "Ich fand das so wahnsinnig echt." Heute arbeitet sie als Gesundheits- und Krankenpflegerin bei den DRK-Kliniken Berlin Westend. Im Nachhinein findet sie den Wechsel nicht überraschend. "Ich bin da reingewachsen", erzählt sie. Die Großeltern wurden über Jahre zuhause gepflegt.
Die Belastung ist hoch - grenzwertig ist sie zwar nicht jeden Tag, aber oft. Lea Friedrich gehört zum Springerpool, das heißt sie arbeitet dort, wo sie gebraucht wird; das kann auf der Geriatrie sein, genauso wie auf der Inneren oder der Orthopädie. Tagsüber ist sie für 15 Patienten zuständig, nachts sind es 30. Weil die Arbeit so kräftezehrend ist, hat sie sich entschieden, in Teilzeit zu arbeiten, um längere Erholungspausen zu bekommen. "Ich möchte, dass ich dem Anspruch gerecht werden kann, den ich an mich selber habe", sagt sie. Viele Kolleginnen seien von Burnout bedroht, weil sie sich aufreiben, andere stumpfen ab und gehen gleichgültig ihrem Dienst nach - Experten bezeichnen dieses Phänomen als Coolout.
Personaluntergrenzen nur auf dem Papier
Heike Zimmer arbeitet seit den 1980er Jahren in der Krankenpflege. Zunächst in Kliniken in Mittelfranken, später ist sie in den Landkreis Bad Kissingen gezogen. In der Region hat sie in den vergangenen 30 Jahren mehrere Krankenhäuser kennengelernt, aktuell ist sie in einer Klinik in Bad Neustadt angestellt. Weil sie über interne Abläufe redet, möchte sie anonym bleiben; ihr Name wurde von der Redaktion geändert. Das größte Problem sieht sie in der Personalausstattung, also dass es für zu viel Arbeit zu wenig Pflegekräfte auf Station gibt. "Die Leute kommen in Ausnahmesituationen. Du musst ihnen in ihrer Not beistehen. So wie du es eigentlich gelernt hast, kannst du sie aber oft gar nicht versorgen", klagt sie. Pausen fallen regelmäßig aus, manchmal bleibe nicht einmal Zeit, etwas zu essen. Nach den Schichten ist sie platt.
Die gesetzlich geltenden Personaluntergrenzen, also Vorgaben wie viele Pflegemitarbeiter auf einer Station Dienst haben müssen, würden regelmäßig nur auf dem Papier eingehalten. "Weil wir das Personal nicht haben", sagt die erfahrene Krankenpflegerin . So würden zum Beispiel Sekretärinnen, die nicht am Bett stehen auf den Dienstplan geschrieben, nur um die Untergrenzen zu halten.
Zimmer betont, dass viele Kliniken mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. Die Grundentwicklung in Richtung Pflegenotstand bemerke sie seit den 1980er Jahren. Schon damals wurde für bessere Bedingungen in der Pflege demonstriert. "In der Corona-Krise war das Arbeiten für uns fast besser", erzählt sie. Die Kliniken verschoben alles, was möglich war und kämpften sich Kapazitäten frei. "So hatte man das Personal von zwei Stationen plötzlich für eine. Jetzt im Regelbetrieb stehen wir wieder auf dem Schlauch", sagt sie. Zimmer kritisiert, dass von der Politik bisher jeglicher Rückhalt und der Wille zu Veränderung fehlt.
Was Pflegende gegen Notstand fordern
Der Deutsche Pflegerat hat jüngst Alarm geschlagen: Eine Stelle in der Pflege bleibe aktuell im Schnitt 240 Tage vakant. Aktuell fehlen deutschlandweit 200 000 Pflegekräfte , in zehn Jahren könnten es eine halbe Million sein.
"Es macht keinen Spaß, Teil eines profitorientierten Gesundheitssystems zu sein", sagt Lea Friedrich. Die ökonomischen Zwänge beißen sich mit dem Berufsethos der Pflegekräfte . Auch sie bemängelt den fehlenden Rückhalt. Eine Gesundheitsreform sei überfällig. Weil damit aber kein Geld verdient werde, sondern im Gegenteil welches investiert werden müsse, befasse sich die Politik damit ungern. "Der Wahlkampf war sehr ernüchternd. Nicht einmal eine globale Pandemie hat es geschafft, die Gesundheitsversorgung in den Fokus zu rücken", kritisiert sie.
Lea Friedrich kämpft mit anderen seit Jahren für Verbesserungen. "Ich habe mich entschlossen, dass ich nicht meckere, sondern für Veränderungen einsetze", sagt sie. 2016 gründete sich ein Berliner Pflegestammtisch, ein Jahr später ging daraus der "Walk of Care" hervor. Die Aktivisten organisieren Demos und Kundgebungen, auf denen sie Missstände benennen und Lösungen formulieren. Während Corona gingen sie ein Jahr wöchentlich auf die Straße. Die Initiative findet inzwischen in anderen Städten wie Halle und Stuttgart Nachahmer. Die Initiatoren in Berlin, zu denen Lea Friedrich gehört, wurden jetzt mit dem Deutschen Pflegepreis für ihr Engagement ausgezeichnet.
Damit sich im Gesundheitssystem etwas ändert, müsse die Gesellschaft als Lobby hinter den Pflegenden stehen. "Gesundheit ist kein wachsender Markt, sondern eine wachsende Herausforderung für die Gesellschaft", betont Lea Friedrich. Sie will, dass Pflegeexperten stärker in politische Entscheidungen einbezogen werden, konkret fordern sie ein Mitspracherecht im Gemeinsamen Bundesausschuss, dem höchsten Gremium der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen. Es brauche eine gesetzliche Personalbemessung, sprich mehr Pflegekräfte auf den Stationen. Auch normale Stationen bräuchten eine Personalausstattung wie Intensiv- oder Palliativstationen. Außerdem müsste die Krankenhausfinanzierung reformiert werden. Lea Friedrich und die Pflegenden beim Walk of Care lehnen die Fallpauschalen ab und fordern eine gemeinwohlorientierte Finanzierung mit verbindlichen Investitionsquoten von Kommunen und Ländern.
Im Kleinen gelingt es der Gruppe zu vermitteln, warum die Arbeit in der Pflege trotz aller Probleme so wichtig ist. Das führe dazu, dass eine alte Kollegin ihre Begeisterung wiederfindet, oder aber dass ein junger Kollege sagt: ,Wegen euch habe ich durchgehalten. Ich möchte etwas bewegen, auch wenn ich an meine Grenzen komme.' Das sind Erfolge, aus denen Lea Friedrich Kraft zieht. Kraft, von der am Ende nicht nur die Pflegekräfte , sondern auch die Patienten profitieren.
Kommentar: Größere Mitsprache für Pflegekräfte
Die Initiatoren des Walk of Care wissen, dass Pflegeberufe die Unterstützung der ganzen Gesellschaft brauchen, um gegen die Missstände im Gesundheitswesen anzukommen. Seit Jahren werfen Pflegekräfte der Politik vor, ihre Interessen nicht zu berücksichtigen. In der Pandemie dem überlasteten Klinikpersonal Beifall zu klatschen, ist das eine, in seinem Sinne zu handeln offenbar etwas anderes.
Dass der Vorwurf der Pflege an die Politik nicht einfach aus der Luft gegriffen ist, zeigt sich aktuell wieder: Bis Ende des Jahres soll ein Sachverständigenausschuss die epidemische Lage und das Infektionsschutzgesetz bewerten und Verbesserungsvorschläge erarbeiten. In diesem Ausschuss sitzen 18 Experten aus den verschiedensten Fachbereichen, angefangen bei Virologen wie Christian Drosten und Hendrik Streeck über Sozialwissenschaftler bis zu Rechtsprofessoren und Wirtschaftsforschern - die Zahl von Pflegeexperten in dem Gremium: exakt Null. Der Deutsche Pflegerat fordert empört und vollkommen zu Recht, das umgehend zu ändern und die Pflege zwingend zu beteiligen.
Die Besetzung des Ausschuss ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Viel fataler ist, dass Pflegeberufe im Gemeinsamen Bundesausschuss (das ist das höchste Gremium der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen), nicht mitentscheiden dürfen. Ein Stimmrecht zu wichtigen Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses haben ausschließlich die Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen, der Ärzte sowie der Krankenhäuser . Das alles zeigt: Wenn nicht die Gesellschaft als Lobby hinter der Pflege steht, stehen die Chancen schlecht, dass ihre Interessen Gehör finden.