Allemann die Ferngläser hoch! Gerade als würde dieser scheue Waldvogel die Truppe in der Rhön willkommen heißen wollen, segelt ein Schwarzstorch am Waldrand entlang sowie die Autotüren ins Schloss fallen. Ankunft der jungen Wissenschaftler. Schwarz und Rot - die Farben passen schon mal. Aber für das, was sie eigentlich suchen, stecken sie ihre Ferngläser weg und fummeln die Lupen raus. Der Blick geht vom Himmel gen Erde. Grundlagenforschung in der Rhön: Das, was die Studenten in den nächsten Tagen herausfinden wollen, soll dem Biosphärenreservat Rhön helfen, eine andere Tierart besser zu schützen, die auch stark gefährdet ist.
Lara Saul zückt den grünen Filzstift und verpasst dem Insekt zwischen ihren Fingern einen Klecks hinter den Kopf. Ganz klar: Das ist sie, die sogenannte Rotflügelige Schnarrschrecke, nach der sie und ihre Kommilitonen Ausschau halten. Die Studenten sind aus Tübingen und Dresden angereist, um diesen Südhang ein paar Kilometer von der Umweltbildungsstätte Oberelsbach im Biosphärenreservat Rhön zu durchforsten. Ihre Mission: herausfinden, was die Heuschrecke braucht, damit sie sich wohlfühlt. Was muss unternommen werden, damit diese stark gefährdete Insektenart nicht ausstirbt? Dafür will die Truppe der Studenten überhaupt erst einmal wissen: Wie viele leben hier?
"Die Tiere mögen es mediterran", sagt Dr. Tobias Gerlach. Er ist Biologe und betreut Forschungsprojekte im Biosphärenreservat. Der Südhang zwischen zwei Ortschaften im Naturschutzgebiet ist zerstückelt in Handtuch-große Grundstücke. Streuobst, Blühwiesen, Steinhaufen: ein Mosaik aus Lebensräumen. "Gerade das macht es spannend für die Natur", sagt Tobias Gerlach. Spannend auch für Dr. Nils Anthes. Der bringt seine Studenten der Uni Tübingen hierher, um außerhalb des Hörsaals zu lernen.
"Um Vielfalt zu erleben, muss man nicht in die Tropen reisen. Die gibt es auch in der Rhön", sagt er. Die Kooperation zwischen den Unis und dem Biosphärenreservat läuft schon seit ein paar Jahren. Profitieren können beide Seiten: Die Studenten erfahren neben der Theorie die Praxis draußen im Feld und der Naturpark bekommt wertvolle Unterstützung bei der Erhebung von Daten. Letztere sollen diesmal zur Grundlage für künftige Pflegemaßnahmen werden, um das Überleben dieser Heuschreckenart in der Rhön zu sichern. Denn die kann nicht einfach auswandern und woandershin flüchten, meint Tobias Gerlach.
"Wenn wir selbst die Arten nicht schützen können, von denen wir wissen, dass sie hier vorkommen und gefährdet sind ...", sagt er und schüttelt den Kopf. Die Rotflügelige Schnarrschrecke sei eine sogenannte Verantwortungsart - und zwar eine, die wohl nicht weit kommt. Die Tiere, die sich hier auf dem Muschelkalkboden angesiedelt haben, bleiben auch hier. Sie haben schlicht keine weite Reichweite auf ihren Flügen. "Wir wissen, die Tiere sind da, aber nicht, wie viele", sagt Tobias Gerlach. 1200 Stück waren es bei der letzten Zählung vor 25 Jahren. Lange her. Besser sei eine Erhebung im Abstand von zehn Jahren, meint der Biologe. Bayernweit könnte die Population hier in der Rhön die größte sein. "Das liegt aber auch daran, dass sich wenige die Mühe machen, zu zählen", meint Gerlach. Inzwischen werde das aber immer wichtiger - und "wieder mehr wertgeschätzt". "Arten bestimmen ist eine Marktlücke." Eine Entwicklung, die nicht ganz uninteressant für die Karrieren der Studenten ist, die mit Klemmbrett und Kescher für die Inventur auf dem Hang herumkraxeln.
Biologie-Studentin Sophie Richter der TU Dresden genießt die Abwechslung auf der Exkursion: "Ich bin gerne draußen." Anna-Lisa Dittrich, die an der Uni Tübingen Geoökologie studiert, möchte hier auch erproben, wie es für sie nach dem Studium weitergehen könnte: "Ich will herausfinden, welcher Beruf es mal werden könnte." Während der Woche in der Rhön will Nils Anthes seinen Studenten "nicht nur reine Artenkenntnis vermitteln". Es soll auch darum gehen, wie in der Forschung generell gearbeitet wird. Dazu gehört auch trockene Statistik. Bevor die Studenten die Rhön wieder in Richtung Uni verlassen, stellen sie Hochrechnungen an, aus denen Aktionen zum Schutz der Heuschrecke abgeleitet werden sollen. Die Ergebnisse, die sie Tobias Gerlach hinterlassen, werden den Biologen erstaunen.
Nach den Zählungen und Berechnungen der Studenten stand fest: Noch vor 25 Jahren haben sich fünfmal so viele Heuschrecken auf dem untersuchten Hang getummelt. 240 sind es heute. "Das hat mich sehr überrascht", sagt Tobias Gerlach. Doch was ist Schuld, dass im Vergleich zu früher so viel weniger Tiere dort leben?
"Es hängt hier alles an der Nutzung", sagt Tobias Gerlach. Die Rotflügelige Schnarrschrecke braucht die "Kulturlandschaft", meint er. Wo keiner mäht, da verbuscht und verwaldet das Gebiet und dem Tier gehen die Lebensräume aus. Trocken und heiß, so wie es die Heuschrecke gerne hat, wird es nur auf einem Boden, der offen liegt. Kommt der Rückgang tatsächlich, weil sich die Landschaft strukturell verändert hat? Vielleicht können alte Luftbildaufnahmen Antworten liefern. Einer der Studenten will sich das demnächst genauer anschauen. Dann will das Team ablesen, was zum Schutz des Insekts zu tun ist.
Mit den Daten, die das Biosphärenreservat in den letzten drei Jahren gemeinsam mit den Studenten zusammengetragen hat, soll nun eine Arbeit in einer deutschsprachigen Publikation veröffentlicht werden. Denn eines steht schon jetzt fest: "Wir haben hier einen Insektenreichtum, wie selten in Bayern", sagt Tobias Gerlach. Er und die jungen Wissenschaftler der Universitäten wollen auch in Zukunft an der Frage forschen, wie diese Vielfalt und die Rotflügelige Schnarrschrecke überleben werden können.