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Münnerstadt
"Via Crucis" von Franz Liszt in der Münnerstädter Stadtpfarrkirche
Regionalkantor Peter Rottmann und sein Ensemble Vokal hatten für ihr Passionskonzert ein Werk vorbereitet, das jenseits aller Programmroutine steht.
An den Chor stellt  'Via Crucis' von Franz Liszt eine besondere Herausforderung dar. Thomas Ahnert       -  An den Chor stellt  'Via Crucis' von Franz Liszt eine besondere Herausforderung dar. Thomas Ahnert
| An den Chor stellt "Via Crucis" von Franz Liszt eine besondere Herausforderung dar. Thomas Ahnert
Thomas Ahnert
 |  aktualisiert: 19.08.2022 00:00 Uhr
Für die Passionszeit sind die Gemeinden musikalisch eigentlich immer gut gerüstet. Es gibt einen überschaubaren Kanon von Werken, die gerne aus dem Notenschrank geholt werden. Größere Gemeinden mit entsprechenden Ressourcen verlegen sich auf die Matthäus- oder, in den letzten Jahren verstärkt, Johannespassion von Bach, kleinere Gemeinden bieten Chorkonzerte gerne unter dem Titel " O Haupt voll Blut und Wunden" an - wenn sie denn noch einen Chor haben. Und man geht zu allen gerne hin, weil man weiß, was einen erwartet.

In die Münnerstädter Stadtpfarrkirche St. Maria Magdalena musste man jetzt allerdings gehen, weil man es eben nicht wusste. Regionalkantor Peter Rottmann und sein Ensemble Vokal hatten für ihr Passionskonzert ein Werk vorbereitet, das jenseits aller Programmroutine in einer Ecke der Nichtbemerkung steht: "Via Crucis" von Franz Liszt. Das wird nur ganz selten aufgeführt, weil es so völlig gegen den österlichen Mainstream geht, mit seiner kargen Besetzung mit Chor und Orgel. Keine Solisten, kein Orchester, keine plakativ festliche Musik, die so gerne als Einstimmung auf das jeweiligen Werk daherkommt.

Zudem ist die Situation der Aufführung nicht einfach. Der Chor muss sich, da er nicht ständig gefordert ist, seine Spannung bewahren und er muss sich auf der relativ kleinen Empore um die Orgel drängen, an der der Organist, mit dem Rücken zu seinen Leuten, gleichzeitig spielt und dirigiert. Da präzise zu bleiben, das kann nicht jeder Chor.

Und dann ist da die Verstörung für das Publikum. Wer naiv in das Konzert kam, wäre vermutlich nie auf die Idee gekommen, dass dieser "Kreuzweg" von Franz Liszt stammt. Denn da ist überhaupt nichts von dessen mehr oder weniger plakativen, mehr oder weniger kontrollierten Virtuosität. Sondern in diesem Alterswerk, einer seiner letzten Kompositionen, ist Liszt wirklich bei sich selbst angekommen, zeigt er so viel wie nie zuvor von sich selbst, von dem gläubigen Abbé. Entsprechend spröde, zerrissen, unmelodisch ist die Musik, technisch gar nicht einmal so schwer, aber harmonisch progressiv bis an die Schwelle der Atonalität emotional aufgeladen und für den Chor von daher nicht einfach zu singen. Wobei einige der 14 Stationen für Orgel solo geschrieben sind.

Die Texte zu den einzelnen Stationen, manchmal nur Fetzen, hat Liszt aus verschiedenen Quellen: Aus dem Matthäus- und Lukas-Evangelium, aus dem Jacopone da Todi heute nicht mehr zugeschriebenen Text des "Stabat Mater", aus dem Gesangbuch - Paul Gerhardts "O Haupt voll Blut und Wunden" - die einzige Station, die der Chor nicht auf Lateinisch, sondern auf Deutsch sang, oder Johann Rists "O Traurigkeit".

Die Interpretation war ein Musterbeispiel der Verdeutlichung. Peter Rottmann schuf mit seinen Registrierungen klare Konturen, die die harten harmonischen Brüche mit einem betonten Non-legato-Spiel geradezu körperlich erfahrbar machten und starke Kontraste bildeten, zu den meditativen, nach innen gewendeten Stationen. Er schuf damit eine Spannung, die den Zuhörer forderte, die es aber auch dem Chor erleichterte, auch bei längeren Pausen den sängerischen Blutdruck hochzuhalten.

Er meisterte die schwierige, etwas ungewohnte Aufgabe wirklich glänzend: Mit einer präzisen Intonation der zum Teil überraschenden und bloß liegenden Intervalle, die man bei Liszt wirklich nicht erwartet hätte, mit einer ausgezeichneten Artikulation der lateinischen Texte (des "O Haupt voll Blut und Wunden" ohnehin) und mit einer starken dramatischen Agogik: Auf der einen Seite die eifernden "Kreuzige ihn"-Rufe der Volksmenge, auf der anderen Seite die inneren Nöte der gläubigen Seele, die klangen, als hätte sie sich der Chor zu eigen gemacht.

Liszts Werk allein wäre schon verstörend genug gewesen. Aber es gab zusätzlich zwei Verstärker. Da war zum einen, passend zu den musikalischen Episoden, die Projektion der 14 Kreuzwegbilder des Malers und Bildhauers Bernhard Guski (*1944) aus dem Bergischen Land, 14 großformatige Aquarelle, mit erstaunlich kraftvollen Farben, mit grobem Strich und Widerborstenpinsel fast wütend auf den Untergrund gemalt, der sein Kreuz schleppende und schließlich daran hängende Christus reduziert auf schwarze Striche. Das wirkte natürlich verstörend, aber es intensivierte auch das Empfinden, weil die eigene Fantasie in Bewegung gesetzt wurde. Wobei auffiel, wie gut sich diese spartanischen Bilder sich mit der Musik ergänzten.

Zum anderen las Rainer Kirch vor jeder Station den zugehörigen Text aus Paul Claudels "Chemin de la croix", und zwar in der von Klara Marie Faßbinder gekürzen und ins Deutsche übertragenen Fassung . Er las diesen Text sehr deutlich, sehr unprätentiös, sehr undramatisch. Aber gerade deshalb beeinflusste er nicht den Zugang zu ihnen, überließ das der Musik und den Bildern.

Claudel hat hier eine sehr persönliche Meditation zu Papier gebracht, mit deren Gedanken und Assoziationen man nicht übereinstimmen muss, auf die man aber auch kommen kann. Das Bild von Pontius Pilatus etwa wird dem Statthalter in Bachs Johannespassion sicher gerechter als bei Claudel. Aber absolut anrührend rückt hier eine Person an der vierten Station in den Blickpunkt, die normalerweise erst als Mater dolorosa unter dem Kreuz in Erscheinung tritt: Maria.

Da heißt es: "Da steht sie an der Straßenecke und wartet auf ihn. Ihre Augen haben keine Tränen, ihr Mund hat keinen Speichel. Sie spricht kein Wort und schaut Jesus an, wie er da kommt. Sie nimmt hin. Sie nimmt noch einmal hin. Strenge unterdrückt sie jeden Schrei in ihrem Herzen." Spätestens hier, befördert durch die Musik der Orgel, wird die Sache ganz persönlich. Und das blieb sie auch. Nicht alle im Publikum trauten sich am Ende nach langer Stille zu applaudieren.
 
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