Der künstlerische Höhenflug, zu dem die Kissinger LiederWerkstatt 2019 in ihrem ersten Konzert durchgestartet war, hat sich im zweiten Konzert fortgesetzt. Und nicht nur, weil es dieses Mal sogar vier Uraufführungen waren. Seit die Anton und Katharina Schick Stiftung Bad Kissingen die Finanzierung der Kompositionsaufträge übernommen hat, kann sich die Werkstatt diesen Luxus erfreulicherweise leisten. Sondern auch, weil die gute Stimmung gehalten hatte. Weil ein entspanntes Klima der Neugier herrschte. Die Routine hatte es ja bisher schon schwer wegen der Uraufführungen, die absolut Neues brachten. Aber seit die Bindung an einen bestimmten Autor aufgehoben ist, ist die Spannung gewachsen. Von den Liedern, die Werkstattchef Axel Bauni für das historische Kontrastprogramm ausgesucht hatte, ist noch nicht ein einziges beim Kissinger Sommer gesungen worden.
Und weil sich wieder eine Truppe zusammengefunden hatte, die bestens harmonierte: Sheva Tehoval (Sopran), Kimberley Boettger-Soller (Mezzosopran), Julian Habermann (Tenor) und André Baleiro (Bariton) sowie die drei Pianisten Axel Bauni, Steffen Schleiermacher und Jan Philip Schulze, die alle eines einte: die Freude am Schwierigen, am Überraschenden - und auch am Gutlaunigen. Es ist allerdings auch eine besondere Arbeitsatmosphäre, die die LiederWerkstatt den Musikern und Komponisten auf einer Insel abgehoben vom Proben- und Konzertalltag, bietet.
Was gab's zu hören? Der Bereich der bereits vorhandenen Vertonungen war ausgesprochen differenziert, aber nicht allzu groß - wegen der vier Uraufführungen. Das Thema "Natur" war durchschlagend, beginnend mit Schuberts "Auf dem See" nach einem Goethetext sozusagen als klassisches Ausrufezeichen. Claude Debussy war ein interessanter Fall. Denn man konnte den Gedanken nicht los werden, dass er die beiden Texte "De grève" und "De fleurs" vermutlich nicht vertont hätte, wenn sie nicht von ihm selbst gewesen wären. Es gab Lieder von Charles Ives wie "The Housatonic at Stockbridge", das wunderbare Klanggemälde eines langsamen, breiten Flusses mit kleines Studeln, der im Meer verschwindet. Oder das zarte, innige "Les fleurs" von Erik Satie . Oder das folkloristisch bunte Tanzlied "A tavasz" ("Der Frühling") von Zóltan Kodály - Lieder, die alle in Beziehung zu den Uraufführungen standen.
Wolfgang Rihm hatte seinen neuen Zyklus "Auf dem See" nach Texten von Conrad Ferdinand Meyer geschickt, drei Texte über eine nächtliche Kahnfahrt, in denen sich der Blick ins Wasser, an das ferne Ufer und in den Himmel richtet - Stimmungsbilder, die Rihm mit starken emotionalen Kurven verdichtete. Allerdings nicht mehr so extrem wie früher, sodass sich die Aufmerksamkeit weniger auf die technische Umsetzung als vielmehr auf die wunderbare Einheit von Text und Musik richtete.
Benjamin Scheuer lieferte den Beweis, dass Lied und Humor durchaus - wieder - miteinander können mit seinen fünfteiligen "Pflanzen" für Sopran und Klavier. Da saßen Sheva Tehoval und Jan Philip Schulze nebeneinander am Flügel und drückten nicht eine einzige Taste und lasen in Höchstgeschwindigkeit, aber verworren und versetzt, aus Goethes Text über die Urpflanze. Man gab es schnell auf, trotzdem etwas verstehen zu wollen - immerhin sprach da der Klassikvater - denn man hatte mit Lachen genug zu tun. Oder in "Arm Kräutchen", dem berühmten Gedicht von Joachim Ringelnatz über den Sauerampfer am Bahndamm, das Scheuer so zerstückelt und ironisiert hat, dass man nur noch heiteres Mitleid empfinden kann.
Ein weiteres Sprechduett - dieses Mal war es allerdings eine Uraufführung - steuerten schon wie am Vortag Gerhard Rühm und Monika Lichtenfeld bei: die "Etüde zum Maschinenschreiben". Während Monika Lichtenfeld die ganze Litanei von vorgefertigten Standardsätzen des alltäglichen Schriftverkehrs las, steuerte Gerhard Rühm einzelne, aus dem Zusammenhang gerissene Wörter oder auch nur einzelne Laute aller Art bei. Was dabei herauskam, war so eine Art Bürostuben-Rap, der die Zuhörer in eine stenotypistische Trance aus der Zeit der Schreibmaschinen versetzte. Nur eines hatte Gerhard Rühm vergessen: Erstaunlicherweise war nicht ein einziger Tippfehler zu hören.
Steffen Schleiermacher war mal wieder der Politischste im Sextett der Komponisten mit seinen drei "Lerchenliedern" nach Joseph von Eichendorff . Die Texte lieferten Steilvorlagen für eine angesichts der eigentlich lieblichen Titel mitunter geradezu gewalttätigen Musik. Aber Passagen wie "Im Osten graut's, der Nebel fällt,/ Wer weiß, wie bald sich's rühret" oder "Ich kann hier nicht singen,/Aus dieser Mauern dunklen Ringen/Muss ich mich schwingen", wecken in einem gebürtigen Hallenser und gelernten DDR-Bürger natürlich ganz bestimmte Assoziationen, die mit Idylle wenig zu tun haben. Und so hatten auch diese Lieder einen durchaus unruhigen Hintergrund, selbst wenn sie leiser wurden.
Natürlich gab es wieder eine Schlusscollage, herumgruppiert um George Crumps "Apparition", mit den Vertonungen der "Feldeinsamkeit" von Brahms und Ives. Da fiel besonders deutlich auf, wie konventionell und eigentlich auch veraltet Ernst Peppings Claudius-Vertonung "Die Sterne" heute wirkt.
Es ist übrigens erstaunlich, wie viel aus der LiederWerkstatt im Laufe der Jahre in den Konzertbetrieb eingeflossen ist.