Natürlich gibt es kein internationales, in Granit gemeißeltes Gesetz, dass das neue Jahr immer am 1. Januar beginnen muss. Und man weiß ja auch, dass jede Religion oder jeder Kulturkreis da ihre eigene Rechnung haben. Und trotzdem ist man ein bisschen überrascht, wenn man Ende September zu einem jüdischen Neujahrskonzert eingeladen wird. Aber tatsächlich feiern die Juden in aller Welt Rosch ha-Schana, das Fest zur Erschaffung der Welt, vom 25. bis 27. September. Da war es nur konsequent, dass die Staatsbad-Philharmonie im Rahmen der "Jüdischen Kulturtage" ein "Jüdisches Neujahrskonzert " im Max-Littmann-Saal gab.
Wichtiger Einfluss
Wobei man mit einer gewissen Erleichterung bemerken konnte, dass es sich tatsächlich um eine heitere Feier eines besonderen Anlasses handelte und nicht, wie das der Titel eigentlich schon suggeriert, um ein "Holocaust-Konzert". Also um ein Konzert, das Werke von jüdischen Komponistinnen und Komponisten zur Aufführung bringt, die während des Dritten Reiches verschleppt und ermordet wurden. Die sind nach 80 Jahren leider immer noch enorm wichtig. Aber gerade deshalb sollte man auch immer wieder daran erinnern, welch großen und wichtigen Einfluss die jüdischen Kulturschaffenden schon vor dem Dritten Reich in Deutschland und im Ausland hatten.
Natürlich lassen sich die Gedanken an die unsägliche Gewalt auch nicht ganz ausblenden, wenn man beispielsweise Kompositionen von Leon Jessel oder Siegfried Translateur ins Programm nimmt. Denn die beiden hätten das Dritte Reich überleben können, wenn sie den Gestapo-Schergen nicht in die Hände gefallen wären, wenn sie sich, wie Emmerich Kálmán, rechtzeitig in die USA abgesetzt hätten. Und man beginnt zu erwägen, welch enormer, nicht nur menschlicher Verlust durch die Verfolgung und Vernichtung der "komischen Intelligenz" der jüdischen Künstler in Deutschland und Europa entstanden ist. Aber Jacques Offenbach , Anton Rubinstein , George Gershwin oder Leonard Cohen gehören nicht in diesen Problemkreis. Ein anderer Aspekt, der wirklich großes Vergnügen machte, war die Präsentation. Es tat der Musik gut, dass wirklich jede Stimme nur einzeln besetzt war - in dem Fall des Salonorchesters kam ohnehin nur die Violine in Frage. Daniel Kim (Violine), Hazar Birkan (Flöte), Yooyeon Sohn (Oboe), Federico Kurtz de Griñó (Klarinette), Reinhold Roth (Trompete), Roman Riedel (Posaune), Setareh Shafii Tabatabai (Klavier), Christoph Staschowsky (Harmonium) und Chan Park (Perkussion) mussten liefern - da konnte sich niemand verstecken. Aber andererseits merkte man den neun Leuten das große Vergnügen an, das sie an ihrem Tun hatten. Denn einerseits konnte die Musik sehr delikat sein, aber andererseits konnten die Musiker auch immer wieder so richtig hinlangen - und das machten sie gerne -, wenn die Musik sinfonischen Pomp entwickeln sollte, wie etwa in Offenbachs Ouvertüre zu "Genoveva von Brabant", Translateurs " Hochzeitszug in Liliput" - der allerdings auch die Verzwergung sehr schön hörbar machte - oder Jessels "Schwarzwaldmädel-Potpourri", wo es gelegentlich ganz gut zur Sache geht.
Präzise Takt- und Tempowechsel
Aber die solistische Besetzung sorgte natürlich auch für eine sehr große Transparenz. Da hörte man wirklich jede Stimme und jeden Ton im Gesamtgefüge. Man bemerkte die präzisen Takt- und Tempowechsel und die vielen Klangfarben und dynamischen Abstufungen, mit denen man diese leichte Musik spielen kann, wenn man sie ernst nimmt. Und man hörte auch, dass alle Komponisten dieses Genres mit relativ wenigen melodischen Ideen und Strukturen auskommen. Das trägt nicht eine Sinfonie. Aber das Wesentliche an dieser Musik ist ihr möglichst hoher Wiedererkennungswert in den Wiederholungen. Und wenn man die so differenziert und animiert spielen kann wie die Staatsbadphilharmoniker, dann wird sie spannend und mitreißend. Das heißt ja nicht, dass sie leicht ist. Man braucht schon eine ausgefuchste Technik, um vor allem die komplizierte Rhythmik so leicht werden zu lassen.
Am Ende klatschten alle mit
Zum Schluss des Abends, durch den Reinhold Roth mit seinen kurzen, aber informativen Moderationen geführt hatte, gab's "Jüdische Spezialitäten", ein Potpourri von "Die jüdische Mama" über Kol Nidrej bis "Hava Nagila". Da trauten sich sogar die Ersten, ein bisschen mitzuklatschen. Bei der Zugabe, dem zweiten Durchgang von "Hava Nagila", klatschte dann der ganze Saal. Schade, dass das neue Jahr nicht so gut wird wie die Wünsche.