Thomas Rödel ist enttäuscht. Enttäuscht und wütend über seine Krankenversicherung, die ihm nach einer Prüfung die Pflegestufe eins entzogen hat. Nun muss sich der 53-Jährige allein mit seiner Erwerbsunfähigkeitsrente durchschlagen. Dabei wurden ihm bei einer Operation beide Beine amputiert. „Ich fühle mich allein gelassen. Das lasse ich mir nicht gefallen“, sagt er. Beim zuständigen Sozialgericht in Neubrandenburg hat er gegen die Entscheidung der Krankenkasse Klage eingelegt, „derzeit warte ich auf einen Termin“.
Es war 2012, als er gerade nach Maßbach (Lkr. Bad Kissingen) gezogen war: „Plötzlich lief meine Diabetes-Krankheit aus dem Ruder.“ Rödel musste operiert werden, verbrachte insgesamt fast ein Jahr lang im Schweinfurter Leopoldina und im Krankenhaus Bad Neustadt. Am Ende hatte er beide Beine verloren. „Es gab keine Alternative“, erzählt er. Gerne wäre er hier in der Gegend geblieben, „ich habe ja lange Zeit für eine Transportfirma im Landkreis Schweinfurt gearbeitet“.
Doch ohne die Hilfe seiner Tochter Anke geht es nicht. Also zog er nach Waren an der Müritz in Mecklenburg-Vorpommern. Dort kümmert sich Anke rührend um ihren stark beeinträchtigten Vater. Dem ist das fast unangenehm: „Meine Tochter hat ein kleines Baby und eigentlich genug zu tun. Nun muss sie sich auch noch um mich kümmern“, sagt er. Was ihn am meisten schmerzt: „Ich kann sie noch nicht einmal für ihre Arbeit entlohnen.“ Seine Erwerbsunfähigkeitsrente beträgt gerade mal 670 Euro monatlich.
Erneute Prüfung mit Hausbesuch
Dabei sah es ganz anders aus, als Rödel das Krankenhaus verließ. Noch während seines Aufenthalts hatte seine Krankenkasse – die SKD BKK mit Hauptsitz in Schweinfurt – die Pflegestufe eins anerkannt. „Nach erneuter Prüfung durch den Medizinischen Dienst ein halbes Jahr später wurde sie mir aberkannt“, erklärt Rödel, der mit seiner Geschichte offensiv an die Presse und auch ans Fernsehen gegangen ist. Die Begründung der Kasse – mit der er bis dato nur positive Erfahrungen gemacht hatte – war für ihn haarsträubend: Die Kriterien für die Pflegestufe eins seien nicht erfüllt, hieß es. Dafür muss unter anderem nachgewiesen werden, dass Rödel mehr als 45 Minuten am Tag auf Hilfe zur Grundpflege (Körperpflege, Ernährung oder Mobilität) angewiesen ist.
Bei der Prüfung durch den Medizinischen Dienst wurden 22 Minuten für die Körperpflege errechnet, weitere acht Minuten für den Bereich Mobilität, erklärt er. „Nie und nimmer kommt das hin, ich brauche doch Hilfe beim Waschen und Duschen und auch beim Gang auf die Toilette“, sagt er entrüstet. Auch beim Sauberhalten seiner Wohnung und beim Kochen ist Rödel auf Hilfe angewiesen. „Wenn meine Tochter nicht wäre, müsste ich wohl in ein Pflegeheim ziehen.“
Auf Nachfrage bei der Krankenkasse SKD BKK bezieht sich diese auf das Gutachten des Medizinischen Dienstes Mecklenburg-Vorpommern (Bereich Neubrandenburg). Nachdem Rödel Widerspruch eingelegt hatte, habe es eine zweite Prüfung, ebenfalls mit Hausbesuch, durch den MDK gegeben – mit einem ähnlichen Resultat, erklärt Monika Matschiner, stellvertretendes Mitglied im Vorstand der SKD BKK. „Wir bedauern sehr, welches Schicksal dem Versicherten durch seine Krankheit widerfahren ist. Aber wir stützen uns auf die Feststellungen der Pflegefachkräfte des Medizinischen Dienstes.“ Und diese haben ergeben, dass der Versicherte durch seine „hohe Mobilität“ und eine „verbesserte Selbsthilfefähigkeit“ deutlich unter den 45 Minuten Grundpflege liegt, die für Pflegestufe eins vonnöten wären.
Weitere Gutachterin
Vonseiten des Medizinischen Dienstes heißt es, dass Rödel beispielsweise nur an drei Tagen Hilfe beim Transfer zum Aufstehen und Zubettgehen benötige, nämlich, wenn er von der Dialyse geschwächt nach Hause zurückkehre und sich ausruhen müsse. Ansonsten – das habe Rödel selbst angegeben – sei er zum selbstständigen Transfer aus dem Bett in der Lage. „Entsprechend hat die Gutachterin diesen Hilfebedarf nur an den drei Dialysetagen berücksichtigt“, erklärt Diane Hollenbach, Geschäftsbereichsleiterin Pflegeversicherung des MDK Mecklenburg-Vorpommern, in einem Schreiben.
Für Rödels Rechtsbeistand, den Neubrandenburger Anwalt Marjo Hoeveler, klingt die Debatte fast absurd. Mit Sicherheit gebe es Grenzfälle in diesem Bereich. „Doch im Fall meines Mandanten ist es offensichtlich, dass die Pflegestufe eins anerkannt werden müsste. Er ist von oberhalb der Knie an amputiert.“ Hoeveler seien ähnliche Fälle bekannt, bei denen sogar Pflegestufe zwei anerkannt wurde.
Gemeinsam mit Rödel hat er nun eine staatlich geprüfte, selbstständig arbeitende Gutachterin mit ins Boot geholt. Sie kommt nach einer Prüfung auf fast 60 Minuten Grundpflege am Tag, erklärt der Anwalt. Weitere 60 Minuten wurden für den Haushalt errechnet. „Es ist gut, dass das nun ein Gericht entscheiden wird“, so Hoeveler.
Ein Fernsehbeitrag über Thomas Rödel wird voraussichtlich am Dienstag, 30. September, in der Sendung „Panorama“ des NDR um 21.15 Uhr gezeigt.
Info: Pflegestufe 1
Erhebliche Pflegebedürftigkeit – Pflegestufe 1 – liegt vor, wenn mindestens einmal täglich ein Hilfebedarf bei mindestens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen der Grundpflege (Körperpflege, Ernährung oder Mobilität) erforderlich ist. Zusätzlich muss mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt werden. Der wöchentliche Zeitaufwand muss im Tagesdurchschnitt mindestens 90 Minuten betragen, wobei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen müssen. Mehr Infos unter www.bmg.bund.de/pflege/pflegebeduerftigkeit/pflegestufen.html TEXT: kgh
Die realen Lasten tragen immer die "kleinen Leute". Das war so und wird immer so bleiben - leider.