Eigentlich sollte man meinen, dass ein Stück über eine zum Scheitern verurteilte Paarbeziehung zweiter ungleicher Partner, wie August Strindberg sie 1888 in seinem "naturalistischen Trauerspiel" "Fräulein Julie" darstellte, etwas sei, bei dem wir uns 130 Jahre später entspannt zurücklehnen und beobachten können, wie unsere Altvorderen sich damals damit abarbeiteten. Eigentlich gibt es ja auch solch ein Verhältnis wie das des adeligen Fräuleins, das im Hauptberuf höhere Tochter ist, zu Jean, dem Knecht des Hauses, hat, in unseren Zeiten so auch nicht mehr. Doch haben es Torsten Fischer, Herbert Schäfer und die Darstellerin der Julie, Judith Rosmair, geschafft, Strindbergs Text in einer Unmittelbarkeit ins Heutige zu transponieren, die verblüfft.
In ihrer Fassung, die sie für das Renaissancetheater Berlin geschaffen haben und die jetzt nach einigen coronabedingten vergeblichen Anläufen beim Theaterring gastierte, weicht die damalige Skandalgeschichte an die Peripherie zurück. Die adelige Julie, die am Anfang mit ihrer Reitpeitsche Macht und Überlegenheit demonstriert, verführt den zunächst zurückhaltenden, aber dann von ihren sexuellen Avancen immer mutiger werdenden Domestiken ihres mächtigen Vaters. Doch der Liebesakt bringt ihr ebenso wenig die Befriedigung wie Jean. Nach der Liebesnacht beschimpft er sie, weist sie zurück, erkennt jedoch als große Chance für seinen gesellschaftlichen Aufstieg, sollte aus der Liaison etwas werden. Julie hat alles aufs Spiel gesetzt und nichts gewonnen, weshalb sie sich (in vielen Aufführungen) am Ende erschießt. Ihr ist der Weg zurück in ihre Gesellschaft nach ihrem Fehltritt versagt. Ein trauriges Frauenschicksal scheint dem kurzen Glück zu folgen, wie das schon so oft dargestellt wurde.
Was die Bearbeiter vom Renaissancetheater ist aber etwas Anderes. Es ist die packende Darstellung eines Geschlechterkampfes, dessen Intensität sich das Publikum nicht entziehen konnte. Wie auf einem Seziertisch werden die einzelnen Anschuldigungen, Beleidigungen , Bösartigkeiten beider fast gleichwertiger Protagonisten ausgestellt. Man folgt dem Schlagabtausch gespannt, kann sich plötzlich nicht vorstellen, wie das Ganze enden soll. Beide halten die Pistole in Händen, doch zum erlösenden Schuss kommt es nicht. Vielmehr wird deutlich, dass diese beiden aus ihrer Verstrickung nicht herauskommen werden, dass sie gefangen sind in dem, was sie da entfacht haben. Strindbergs Ehehöllen, wie man sie in seinen anderen Stücken antrifft, scheinen sehr nahe zu sein. In der Bearbeitung der Berliner wird zum Schluss der Anfang wiederholt: Jean bewundert Julies Tanz und es geht weiter. Eine absolut packende neue Lesart einer alten Geschichte, die uns dadurch sehr viel näherkommt als der Fehltritt einer jungen Adeligen beim Mittsommernachtsfest!
Torsten Fischers Regie zwang die beiden Darsteller in ihrer kühlen hermetischen Welt ständig zu Bewegung in einem faszinierenden und sie ständig fordernden Raum. Die beiden Ausstatter Herbert Schäfer und Vasilis Triantafillopoulos hatten zwei bühnenportalhohe Wände mit schlosskonformem cremefarbenem Schleiflackanstrich und einfachen Zierleisten schräg auf einen Durchgang rechts hinten gebaut. Von den vorne angefügten, fast mannshohen Simsen mit spiegelnder Edelstahlverkleidung gingen zwei mächtige Türen ins Innere. Mit viel Mühe mussten die beiden Protagonisten sich zu denen hochstemmen. Hinter der linken Tür wurde die Küche von Christine, Jeans Partnerin aus dem Dienstbotenbereich, suggeriert, deren Rolle sehr geschickt gestrichen war, da er nur durch die Tür mit ihr sprechen konnte. Durch die ständige Bewegung auf den verschiedenen Ebenen gab es in diesem Zweipersonendialog keine Ruhepunkte, waren die Zuschauer ständig zum Mitschauen, Beobachten gefordert. Ganz besonders reizvoll wurde das durch die raffinierte Beleuchtung Gerd Littaus, denn die beiden Akteure schienen mit ihren eigenen Schattenbildern zu tanzen.
So war die Bühne trotz ihrer Kargheit ein ständig bewegter, vibrierender, immer perfekt ausgeleuchteter Raum für die beiden Akteure, die fast ständig ihre Positionen veränderten. Dominique Horwitz war in dieser Inszenierung nur scheinbar der Selbstbewusste, Ruhige, sich seiner männlichen Machtposition Bewusste. Mit differenzierter Körpersprache zeigte er Jeans Überwältigung durch Julies Ausstrahlung ebenso wie ihre verblüffenden Outfits, aber auch dass er diese "verrückte Frau", wie er sie nennt, überhaupt nicht einschätzen kann und er von ihr deshalb nicht wird loslassen können.
Judith Rosmair changierte zwischen der verwöhnten, im wirklichen Leben orientierungsunfähigen, eigentlich nur in ihrem Geliebtwerdenwollen sicheren, ebenso nervigen wie faszinierenden jungen Frau. Sie war das grazile, wendige Zentrum des Geschehens, um das Horwitz wie ein Tanzbär kreiste.
Die Berliner Truppe präsentierte dem Publikum des Bad Kissinger Theaterrings eine selten so gesehene rundum stimmige und in allen Konsequenzen durchdachte Aufführung und zauberte aus dem alten Stück Strindbergs eine raffiniert ausgetüftelte Sicht auf die Absurditäten, Untiefen, aber auch mitreißenden Aspekte des komplizierten Paarungstanzes der menschlichen Spezies. Das Kissinger Publikum folgte der Performance fast atemlos und dankte der Truppe mit sehr ausgiebigem Applaus.