Zugegeben, der Titel ist vielleicht nicht ganz glücklich gewählt: „Gedankenodyssee“ lässt nicht unbedingt die Pulsfrequenz in die Höhe schnellen. Der Aspekt des Reißerischen, den der alte Homer vor rund 2750 Jahren dem Menschen vermitteln konnte – wenn es ihn überhaupt gegeben hat – hat sich im Lauf der Jahrtausende abgenutzt.
Die zehnjährige Seereise von dem eroberten Troja in Odysseus’ Heimat Ithaka hat für den heutigen Leser oder Hörer enorm an Schrecken verloren. Und so ist man ein bisschen verunsichert in seinen Erwartungen, wenn man aufbricht, um die „Besondere Reihe“ im Maßbacher Theater, genauer im TIP, zu besuchen.
Schülerin im Jugendtheaterclub Maßbach
„Gedankenodyssee“ heißt das Stück von Angelique Erhard. Sie ist keine dauerbepreiste Jugendbuchautorin von internationaler Dimension. Das kann die 20-Jährige auch noch nicht sein. In Maßbach kennt man sie aber trotzdem. Denn sie war als Schülerin im Jugendtheaterclub Maßbach aktiv.
Da wusste sie wohl schon, dass sie Schauspielerin werden will. Und sie ist zurzeit – deshalb sieht man sie bei den Premieren beim Schlussapplaus auch auf der Bühne – als Bundesfreiwilligendienstleistende am Maßbacher Theater für ein Jahr als Regieassistentin tätig.
Sie hat sich bei der Stoffwahl für ihren Erstling klugerweise aus einer Welt bedient, die sie bestens kennt: die Lebens- und Gedankenwelt der Teenager .
Kaum zu beantwortende Fragen für Teenager
Sue heißt in dem Monolog oder Einpersonenstück – die Protagonistin, eine 16-jährige Realschülerin, die offenbar gerade und erstaunlicherweise gut gelaunt nach Hause gekommen ist und sich an ihre Schulaufgaben setzt. Für den Ethikunterricht hat sie die Aufgabe, Fragen zu beantworten wie „Wer bin ich?“ oder „Was möchte ich im Leben mal erreichen?“ – Fragen, die Lehrer gerne stellen, weil sie wohlfeil sind, aber auch kaum zu beantworten.
Angelique Erhard hat es sich alles andere als leicht gemacht. Sie hat keinen wohl bedachten, altklug-naiven Besinnungsaufsatz erfunden, den man hier erwarten könnte.
Sie hätte den vermutlich selbst geschrieben, wenn sie als Schülerin diese Aufgabe bekommen hätte – nicht, weil sie es nicht besser gekonnt hätte, sondern weil ein Aufsatzheft kein Medium ist, dem man seine innersten Gedanken verrät, die dann benotet werden.
Depression und Panikattacken der Protagonistin
Und so bleibt auch Sue schon an den ersten Fragen hängen; bei einigen fällt ihr überhaupt nichts ein. Spätestens bei der Frage: „Wer bist du?“ gerät sie ins Schlingern und gerät immer mehr in Depression und Panikattacken. Sie leidet immer mehr darunter, wie wenige Aussagen sie über sich selbst machen kann. Sie leidet unter dem Erwartungsdruck ihrer Umgebung. Sie leidet unter der ständigen Beobachtung, aber unter zu wenig Beachtung.
Sie findet es unerträglich, ständig Antworten geben zu sollen, die sie gar nicht geben kann oder die die Fragenden nichts angehen. Sie weiß nicht, ob sie immer die richtigen Entscheidungen trifft, aber sie weiß auch niemanden, der ihr das sagen kann. Andererseits steht sie kurz vor dem Schulabschluss. Dann muss sie plötzlich noch mehr Entscheidungen alleine treffen.
Sue versinkt in Selbstmitleid und tiefster Depression. Ein Ausweg deutet sich an, als ihr einfällt, dass sie gut zeichnen kann. Und dass sie Gedichte schreiben kann. Und dann hat sie eine Erkenntnis: „Ich bin, wer ich bin, und ich weiß, was ich kann. Ich bin ein Knoten in einem Netz, gestrickt aus Personen.“ Das hilft. Gut gelaunt verlässt sie ihr Zimmer und bricht auf Richtung Zukunft.
Spielerische Besessenheit fesselt
Angelique Erhard hatte zwei entscheidende Positivposten bei der Realisierung ihres Textes. Als Regieassistentin vor Ort konnte sie die Inszenierung selbst übernehmen und ihre Intentionen im Sinne der Authentizität selbst gestalten. Das funktionierte freilich auch deshalb so gut, weil sie in Anna Schindlbeck als Sue eine Partnerin hatte, die schauspielerisch in die Extreme gehen kann. Sie spielte ihren Part (eine Stunde pausenlos Text) außerordentlich konzentriert und nuanciert, mit einem Realismus in den psychischen Entwicklungen und Entgleisungen, mit einer immer nervöseren Gestik, dass man sich immer wieder sagen musste: Das ist nur Theater! Aber es war diese spielerische Besessenheit, die fesselte, die immer noch Steigerungen fand. Als sich das rasche Ende näherte, konnte man wieder ausatmen.
„Gedankenodyssee“ in die Mittelstufen der Schulen bringen
Ist im TIP schon einmal so lange applaudiert worden? Aber in die ganze Begeisterung mischte sich etwas Betrübnis: Da hatten sich die beiden Frauen so viel Arbeit gemacht, um die „Gedankenodyssee“ auf die Bühne zu bringen, haben sie aufgeführt.
Wäre es nicht möglich und sinnvoll, dieses Stück – es ist ja kein großer logistischer Aufwand – in die Mittelstufen der Schulen zu bringen? Denn der Ankündigungssatz: „Ein Monolog ganz nah an der Gedankenwelt junger Menschen“ stimmt nicht. Mit diesen Fragen und Situationen waren und sind alle Jugendlichen konfrontiert. Allerdings nicht immer so spektakulär.
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