Nein, so einfach kann man Sebastian Tewinkel - neuer Chef des Bayerischen Kammerorchesters Bad Brückenau - nicht den Vorwurf machen: Kaum hat er im Herbst sein erstes Konzert dirigiert, ist er schon wieder weg! Denn es ist schon eine längere Tradition, dass sich das Orchester zum Weihnachtskonzert einen Gast ans Pult einlädt. Dieses Jahr fiel die Entscheidung auf einen Kompromiss, der das Dirigentenpult verzichtbar machte: Die Geigerin Hannah Weirich.
Sie ist eine Musikerin, die vielleicht nicht gerne in großen Orchestern spielt, aber sehr viel in der Kammermusik, in überschaubaren Gruppierungen vom "Ensemble Musikfabrik" bis hinab zu ihrem Klaviertrio "Fridegk", in denen sie auch gerne kreative Verantwortung übernimmt. So leitete sie auch jetzt das Brückenauer Kammerorchester vom ersten Pult aus als Konzertmeisterin. Wer sie da beobachtete, konnte die Wahl des Orchesters verstehen.
Reise durch die Jahrhunderte
Sebastian Tewinkel hatte ja schon vor Dienstantritt erklärt, dass sein programmatisches Augenmerk auf musikalischen Formen liegen würde - zumindest zunächst, bis man durch alle praktikablen durch sei. In seinem Antrittskonzert war es die "Sinfonie"; jetzt sollten Hannah Weirich und die Pariser Flötistin Magali Mosnier auf dem Gebiet der "Suite" fündig werden. Und sie wurden fündig. Sie stellten ein außerordentlich interessantes Programm zusammen, das natürlich - wie könnte es anders sein - mit der berühmten h-moll-Suite für Flöte, Streicher und Basso continuo BWV 1067 von Johann Sebastian Bach begann, aber dann nicht - wie vielleicht mancher befürchtet hatte - im Barock hängen blieb, sondern, wie manch anderer vielleicht befürchtet hatte, ins späte 19. und frühe 20. Jahrhundert wechselte mit Erwin Schulhoffs Drei Stücken für Streichorchester WV 5, der Suite modale für Flöte und Streicher von Ernest Bloch und der Suite für Streichorchester JW 6/2 von Leoš Janácek .
Die Bach-Suite kennt eigentlich jeder: "Das ist doch die mit der Badinerie" - ein Satztitel, den man sich auch noch ganz gut merken kann. Das ist eine Musik, die man gerne zelebriert, weil die schweren Punktierungen der französischen Ouvertüre dazu verleiten und man dann auch aus dieser Spur nicht mehr wirklich herauskommt. Und deshalb war die Brückenauer Aufführung so überraschend, weil Hannah Weirich und ihre Leute durchwegs flotte, zum Teil stürmische Tempi gewählt hatten. Plötzlich und endlich einmal wieder konnte man sich klarmachen, wofür Bach seine vier Orchestersuiten geschrieben hatte: Das war nichts Staatstragendes, sondern pure Unterhaltungsmusik , die das Leipziger " Collegium Musicum " (später: "Bachisches Collegium Musicum ") im Zimmermann'schen Coffé-Garten aufführte - und damit eigentlich viel zu schade für eine Umgebung, die vor allem auf den Austausch von Neuigkeiten und den Genuss von Koffein aus war.
Denn die Musik ist, auch wenn man es nicht immer hört, außerordentlich kompliziert gesetzt - nicht nur für die Soloflöte, sondern auch für die Streicher; und je tiefer sie wird, desto schwieriger wird sie. Das hatte allerdings keinen Einfluss auf die artikulatorische Klarheit, auf die rhythmische Prägnanz, auf die strukturelle Durchdringung. Es wurde klar, dass diese ehemalige Tanzmusik durch ihre virtuose Anreicherung und Stilisierung auch an Unterhaltsamkeit gewonnen hatte.
Mehr Impulse und Klangfarben
Bei Magali Mosnier musste man auf das groß erstaunende "Aha!" noch ein bisschen warten. Das lag nicht daran, dass die Flöte immer wieder mal parallel zur 1. Violine geführt wird und damit gleichsam und beabsichtigt in den Streichern verschwindet. Sondern daran, dass sie sich sehr stark auf die spieltechnischen Verläufe fokussierte. Natürlich ist sie eine fabelhafte Technikerin, aber durch diese Fokussierung kamen andere Aspekte ein bisschen zu kurz wie etwa die Bandbreite der Klangfarben oder eine hundertprozentige Konzentration. Man hätte sich von ihr eine deutlichere Kontaktaufnahme mit dem Orchester und Führung über Impulse gewünscht. Man kam von dem Gedanken nicht ganz los, dass die Suite ein Vorschlag von Hannah Weirich gewesen war.
Erwin Schulhoffs Drei Stücke zeigten, wie kurzweilig eine Musik sein kann, die sich eigentlich von der Romantik verabschiedet, aber noch nicht die Zweite Wiener Schule oder den Surrealismus erreicht hat. Und welch reiche Klangfarben ein reines Streichorchester erzeugen kann. Am verblüffendsten war da die "Elegie im Stile von Edvard Grieg ". Wenn man es nicht besser gewusst hätte, hätte man auf irgendetwas aus "Peer Gynt" getippt, aber eigentlich doch nicht. Tatsächlich war es auch kein Zitat. Aber die Klangfarben und die Stimmung waren extrem gut getroffen - in der Komposition und in der Interpretation. Schade, dass Schulhoff 48-jährig 1942 im KZ Wülzburg an Tuberkulose gestorben ist. Er hätte der Nachkriegsmusik außerhalb von Darmstadt viele Impulse geben können.
Anführerin vor dem Orchester
Die Suite modale von Ernest Bloch war vermutlich Magali Mosniers Vorschlag, denn da kam das "Aha!". Das war ihre Musik, da stand sie als Anführerin vor dem Orchester, da war sie wirklich initiativ und zauberte Klangbilder. Da entwickelte sie eine fassbare Melancholie, auf die sich das Orchester sehr gut einlassen konnte, und damit auch einen plausiblen Kontrast in dem schwungvoll-tänzerischen Allegro giocoso des zweiten Satzes. Am Ende war die Spannung so groß, dass sich das Publikum lange nicht traute zu klatschen.
Bei Bachs Badinerie als Zugabe mit geradezu überschäumenden Verzierungen war dann auch das Einverständnis da, das man beim ersten Durchlauf ein bisschen vermisst hatte.
Leoš Janácek soll mit seinem Jugendwerk, seiner Suite für Streichorchester JW 6/2, sehr unzufrieden gewesen sein, soll mit kompositorischen Mängeln gehadert haben. Man kann seine Einwände natürlich diskutieren und ihm auch recht geben. Aber vielleicht hätte er nur die Brückenauer Version hören sollen. Denn da fielen diese Mängel eigentlich gar nicht ins Gewicht, weil man von Differenzierungen gefesselt war, von stimmungsmäßigen ebenso wie von klanglichen und rhythmischen auf kleinen stürmischen Inseln - auch wenn hier, wie auch schon bei Block, sich die Melancholie und die Trauer immer mehr in den Vordergrund schoben. Da war die Zugabe, das charmante "Eine kleine Frühlingsweise" von Antonin Dvorák, ein dankbar angenommenes Regulativ. Der Totensonntag musste noch ein kleines bisschen länger vor der Tür warten.