Zäumen wir das Pferd doch einmal von hinten auf, beginnen wir am Ende. Denn es gibt durchaus noch Überraschungen, mit denen man aus Erfahrung nicht rechnen kann. Man hätte ja eigentlich schon gar nicht mit dem Konzert der Bamberger Symphoniker unter der Leitung von Jakub Hruša im Regentenbau rechnen können. Aber das wurde nach Bad Kissingen verlegt, weil das Theater in Schweinfurt wegen der Generalsanierung zurzeit geschlossen ist. Was aber vollkommen überraschend war, das waren zwei (!) Zugaben! Ausgerechnet die Bamberger, die unter dem Titel "Encore!" eine ganze Reihe von Kompositionsaufträgen für Zugaben vergeben haben, aber praktisch nie eine spielen. Die, etwas überspitzt ausgedrückt, nach Gastspielen schon im Bus sitzen, wenn im Saal gerade der letzte Klatscher verklingt. Die spielten zwei Zugaben, und schienen das auch noch wirklich gerne zu machen.
Warum? Man musste ja nur hören, wie das Orchester zwei der Slawischen Tänze von Antonin Dvorák spielte. Da war ein derartiges Feuer in der Musik und eine Musizierlaune und virtuose Kondition, dass man die beiden Sätze kaum wiedererkannte. Auch wenn der Konzertbetrieb, wenn auch immer noch mit allerlei Einschränkungen und Vorschriften, allmählich wieder ins Rollen gekommen ist, scheint es für die Musiker immer noch ein Aufatmen zu sein, mit voller Besetzung in einem Saal, in dem die unbesetzten Plätze in der Minderheit sind, wieder richtig musizieren zu können.
Und deshalb macht es an dieser Stelle Sinn, das Pferd doch von vorne aufzuzäumen. Denn das war ein Eindruck, der sich schon bei den allerersten Takten einstellte. Das Orchester und sein Dirigent scheinen in dieser schwierigen Zeit der Lockdowns und kurzfristigen Absagen noch näher als bisher schon zusammengerückt zu sein. Und sie scheinen auch die Leerlaufzeiten genutzt zu haben, um sich noch weiter zu perfektionieren. Leise und trotzdem höchst präzise konnten die Bamberger ja schon bei Jonathan Nott spielen. Aber jetzt konnte man beispielsweise die verblüffende Erfahrung machen, wie geradezu tonlos leise ein Becken gespielt werden kann, ohne seine Durchsetzungskraft zu verlieren.
Schon das erste Werk des Abends weckte Begeisterung: das Klavierkonzert G-dur von Maurice Ravel . Eigentlich kennt man es ja; auch in Bad Kissingen war es schon mehrfach zu hören, unter anderem mit Jean-Yves Thibaudet und dem Orchestre de Paris unter Paavo Järvi. Aber noch nicht so wie jetzt mit Hélène Grimaud und den Bambergern.
Das G-dur-Konzert scheint ihr Leib- und Magenstück zu sein. Gefühlt ist es das Werk, das sie am häufigsten spielt (und spielen muss). Aber deshalb ist auch jeder Ton genau kalkuliert, jede Pointe, jede dynamische Veränderung, ohne dass der Eindruck von Routine entsteht. In den beiden turbulenten Ecksätzen entwickelte sie mit traumwandlerischer Präzision raffinierte Jazzsequenzen, spielte mit enormem Vortrieb, der das Publikum ein bisschen atemlos machte. Wobei sie sich in ihrer Konzeption des Überwältigungsspiels genau mit Jakub Hruša traf. Die Absprachen müssen sehr intensiv gewesen sein. Denn das Orchester ließ sich vorbehaltlos auf die hochvirtuosen, vertrackten Rhythmen ein, begleitete und provozierte. Und Hélène Grimaud wusste ganz genau, wo sie als Solistin zu führen und wo sie das Klavier zur füllenden Klangfarbe zurückzunehmen hatte.
Das Erstaunlichste war allerdings der zweite, der langsame Satz, der sehr oft banalisiert und damit langweilig wird. Denn nicht alle Pianisten können mit dem langen Klaviereinstieg etwas anfangen, der etwas Kinderliedhaftes an sich hat und deshalb Gefahr läuft, nicht ernst genommen zu werden. Aber Hélène Grimaud fand die Spannungen, die in dieser Musik stecken und gab sie wunderbar erst an die Bläser und dann an das gesamte Orchester weiter. So bekam dieses Adagio assai das Gewicht, das es zwischen den beiden fulminanten Ecksätzen unbedingt braucht - und verdient.
Für Jakub Hruša scheint Bedrich Smetanas berühmter sechsteiliger Zyklus "Má Vlast" ("Mein Vaterland") das Leib- und Magenstück zu sein. Wobei man ihm, dem in Brno Geborenen, nicht den Vorwurf machen kann, dass er das Werk als Mittel gegen Heimweh braucht. Ganz im Gegenteil. Vier Sätze hatte er ausgewählt: "Vyšehrad", "Vltava" ("Die Moldau"), "Šárka" und "Z ceských luhu a háju" ("Aus Böhmens Hain und Flur"). Aber der malte diese vier sinfonischen Dichtungen nicht mit dem breiten Pinsel der Heimattümelei und pittoresken Harmlosigkeit, sondern nüchtern, distanziert, analytisch. Er zerlegte sie in viele spannende, stark kontrastierende Einzelteile, die er ebenso spannend auch wieder mit zum Teil raffinerten Überleitungen verband.
Der Effekt erstaunte: Die Aufmerksamkeit fokussierte sich weg von den erläuternden Inhalten, weg von den Bildergeschichten, hin zur Musik mit ihren kompositorischen Qualitäten und Raffinessen, die Bedrich Smetana ihr gegeben hat. Natürlich ist es ganz nett, wenn man sich in seiner Fantasie von den vorgeschlagenen Assoziationen leiten lässt, wenn sich der Vyšehrad auftürmt, wenn die Moldau nach den tosenden Stromschwellen in der Elbe vermurmelt und hinter ihr mit zwei knallenden Akkorden die Tür zugeschlagen wird mit dem Signal: "Für dich gibt es kein Zurück!"
Aber all das brauchte man eigentlich nicht (man hätte auch andere Bilder finden können). Denn man konnte die absolute Musik genießen, ihre Differenziertheit, ihre Raffinesse, ihre Melodien. Und man konnte mal wieder die Erfahrung machen, dass Romantik, kompromisslos betrachtet, auch ihre spröden, harten, gewaltigen Kanten hat. Jakub Hruša konnte seine Musiker von der Leine lassen. Und die musizierten mit einer derartigen Intensität, dass es schon zwischen den Sätzen verständlichen Szenenapplaus und Bravorufe gab. Und dann eben zwei Zugaben.