Ein weinendes Auge – die Iris blau, die Lederhaut gelb, die Lider grün– symbolisiert die Wut und die Trauer vieler Brasilianer nach den Krawallen am Sonntag.
Dieses Bild gibt die derzeitige Stimmung von Ana Maria Benevides Werner und Marta Dias Dunkel aus Bad Kissingen wieder. Auch Lídia Poppe ist immer noch entsetzt. Die drei Brasilianerinnen leben schon viele Jahre in Deutschland, haben aber engen Kontakt zu Freunden und Familie im Heimatland.
Spaltung bis in private Chatgruppen
Fast auf den Tag genau zwei Jahre nach dem Sturm auf das US-Kapitol ereignen sich ähnliche Szenen in Brasilia, als Anhänger des ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro am Sonntag (Ortszeit) in Regierungsgebäude eindringen.
„Ich habe schlecht geschlafen“, sagt Ana Maria Benevides Werner, „bis ein Uhr nachts war ich wach und habe mit meiner Familie telefoniert.“ Schon lange verfolgt die Vorsitzende des Kissinger Integrationsbeirats die politischen Entwicklungen in ihrem Heimatland. Sie weiß, wie gespalten die brasilianische Bevölkerung ist.
Selbst in ihren eigenen privaten Chatgruppen hätten sich viele Bekannte radikalisiert, gebe es heftige Auseinandersetzungen zwischen Bolsonaro-Anhänger und Wählern des linksgerichteten Lula da Silva , der die Präsidentenwahl Ende Oktober knapp gewonnen hatte.
Trotzdem hätte sie nicht mit einem solchen Angriff gerechnet: „Das es so schlimm wird, hätte ich nicht gedacht. Man hat diese Menschen zu lange unterschätzt.“
Militärdiktatur wäre viel schlimmer
Marta Dias Dunkel dagegen ist nicht überrascht: „Als Lula im Herbst gewonnen hatte, dachte ich mir, es kommt noch was Schlimmes. Es war zu erwarten, dass die Bolsonaro-Anhänger Lulas Sieg nicht akzeptieren. Aber es ist Fakt, dass die Hälfte der Bevölkerung ihn gewählt haben!“
Die Garitzerin, die seit 20 Jahren in Deutschland lebt, kann nicht verstehen, wie manche Landsleute ein Eingreifen des Militärs fordern können: „Die Leute habe keine Ahnung wie viel schlimmer eine Militärdiktatur wäre. Meine Eltern haben diese Zeit noch miterlebt und erzählen, dass unzählige Menschen verschwunden und ermordet worden sind.“
Auch Bolsonaro- Anhänger schockiert
Lídia Poppe sieht in dem Sturm auf das Regierungsviertel einen „reinen Akt von Vandalismus. So eine respektlose Aktion gegenüber allen Brasilianern kann keiner begrüßen.“
In ihrer Familie in Brasilien gibt es sowohl Bolsonaro- als auch Lula-Anhänger. Viele, die Bolsonaro gewählt haben, seien auch schockiert und können nicht glauben, dass der ehemalige Präsident für diese brasilianische Version des Sturms auf das US-Kapitol verantwortlich ist, berichtet die Dermatologin.
Bohnen für viele zu teuer
Zur Einschätzung der aktuellen politischen Situation in Brasilien sagt Marta Dias Dunkel nur: „Schlimm! Man weiß nicht, was passieren wird. Bolsonaro hat in den letzten Jahren nur für die Reichen Gutes getan. Die hatten ein schönes Leben. Die Armen konnten sich nicht mal unser Grundnahrungsmittel Bohnen kaufen.“
Auch wie der ehemalige Präsident mit der Corona-Pandemie umgegangen ist, macht sie wütend. Die 49-Jährige hat Freunde im gleichen Alter wegen den fehlenden Impfungen verloren.
Benevides Werner sieht eine sehr starke Spaltung in der brasilianischen Bevölkerung : „Die Bolsonaro-Anhänger haben jetzt zwar etwas erreicht – einen großen materiellen Verlust in den Regierungsgebäuden – aber diejenigen, die für die Demokratie kämpfen, werden das jetzt noch stärker tun.“ Wie groß der Schaden für die Demokratie in Brasilien ist, sei noch nicht absehbar.
Hoffnung auf starke Sozialpolitik
Lídia Poppe hofft, dass die Verantwortlichen der Krawalle zur Rechenschaft gezogen werden. Für die Zukunft Brasiliens wünscht sie sich Klarheit und dass die Sozialpolitik gestärkt wird, wie Lula es in seiner Rede zur Amtseinführung versprochen hat.
Auch Benevides Werner erhofft sich mehr Gerechtigkeit zwischen den Menschen und „dass ich wieder ohne Angst hinreisen kann, wieder tanzen und wieder feiern kann!“