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Bad Brückenau
Stolpersteine in Bad Brückenau: Eine Verbeugung vor den Opfern
Gunter Demnig hat die in den Asphalt eingelassenen Stolpersteine erfunden. Vor der dritten Steineverlegung sprach der Künstler über sich und sein Werk. Wer ist der Mann, der 77 000 steinerne Mahnmale in 26 Ländern hinterlassen hat?
Drei Stolpersteine für die Familie Goldschmidt wurden vor ihrem früheren Wohnhaus Unterhainstraße 25 verlegt. Sigismund von Dobschütz       -  Drei Stolpersteine für die Familie Goldschmidt wurden vor ihrem früheren Wohnhaus Unterhainstraße 25 verlegt. Sigismund von Dobschütz
| Drei Stolpersteine für die Familie Goldschmidt wurden vor ihrem früheren Wohnhaus Unterhainstraße 25 verlegt. Sigismund von Dobschütz
Sigismund von Dobschütz
 |  aktualisiert: 17.08.2022 16:40 Uhr

Ein weltpolitisch denkender, gelegentlich auch provozierender Aktionskünstler war Gunter Demnig (72) schon in seinen Studienjahren . Dass allerdings aus der Verlegung seines ersten, im Jahr 1996 noch nicht genehmigten Stolpersteins in Berlin ein internationales Mammutprojekt und sein Lebenswerk werden würde, habe er vor 20 Jahren selbst nicht ahnen können, verriet Demnig am Samstag in Bad Brückenau in seinem Vortrag am Vorabend der dort folgenden dritten Stolperstein-Verlegung.

Mehrere Anzeigen gegen den Künstler

Im Oktober 1947 in Berlin geboren, studierte Demnig ab 1967 zur Zeit der 1968er Studentenunruhen und des Vietnamkrieges an der Hochschule für bildende Kunst. Schon damals bekam er wegen eines in seinem Atelier von der Straße aus sichtbaren Werkes eine Anzeige: Der junge Kunststudent hatte aus Protest gegen den Vietnamkrieg die Sterne in der US-Flagge gegen Totenköpfe ausgetauscht. Demnig holte sich Rechtsbeistand bei einem damals noch völlig unbekannten Juristen namens Otto Schily (87), dem späteren RAF-Anwalt und Bundestagsabgeordneten. Es sollte nicht die einzige Anzeige oder Androhung eines Strafverfahrens im Leben des Aktionskünstlers bleiben, doch immer kam Demnig mit einem blauen Auge davon.

Blutspur nach Venedig

Ansätze seines Stolperstein-Projekts finden sich bereits in seinen ersten Großprojekten, sei es das auf die Straßen gemalte Textband von Berlin nach Paris oder - nach seinem Wechsel 1971 an die Universität Kassel - die echte Blutspur von Kassel nach Venedig, um nur zwei Beispiele zu nennen. Denkanstöße, nicht von jedem geschätzt, aber immer Nationen verbindend - das sind Stichworte, die seit 20 Jahren auch für seine Stolperstein-Aktion gelten. Der entscheidende Schritt war 1990 das quer durch Köln laufende Schriftband zur Erinnerung an die Deportation von tausend Sinti und Roma aus Köln im Jahr 1940. Noch heute findet man Teilstücke im Kölner Stadtgebiet, wo Demnig seit 1985 lebt und arbeitet. "Hätte ich dies alles nicht gemacht, würde es die Stolpersteine nicht geben."

77 000 Stolpersteine in 26 Ländern

Denn daraus entwickelte der Künstler allmählich seine Idee der Stolpersteine zum Gedenken an alle Opfer des Nazi-Regimes. Seinen ersten Stolperstein, einen kleinen Steinblock mit gravierter goldglänzender Messingplatte, eingelassen in den Boden vor dem letzten freiwillig gewählten Arbeits- oder Wohnsitz des jeweiligen Opfers, verlegte Demnig - wieder einmal, ohne amtliche Stellen vorher zu fragen - vor 24 Jahren in seiner Geburtsstadt Berlin. Ein weiterer Stein folgte später vor dem Kölner Rathaus. "Damals fand man das gar nicht gut, heute ist der Stein offizieller Anlaufpunkt bei Stadtführungen." Heute gibt es etwa 77 000 Stolpersteine in 26 Ländern. Demnig: "Jedes Opfer bekommt von mir seinen Stein, jeder Stein ist handgefertigt."

"Der Anfang war nicht ganz einfach", gibt Demnig rückblickend zu. Noch heute hört er Kritik, nicht zuletzt das Argument von Charlotte Knobloch (87), bis 2010 Präsidentin des Zentralrats der Juden und seit 1985 Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern: "Nun trampelt man wieder auf Juden herum." Demnig hält dem entgegen: "Man trampelte damals nicht auf ihnen herum, man vernichtete sie alle gezielt." Stolpersteine fordern stattdessen zum Innehalten auf. "Wir verbeugen uns vor den Opfern, um die Inschrift in den Steinen zu lesen." Fußgänger sollen sogar über die Steine laufen, um die Messingplatte blank zu halten. Demnig ergänzt: "Im Vatikan laufen die Menschen über Grabplatten. Dort sagt man, je mehr Menschen darüber laufen, umso größer die Ehre des darunter Bestatteten.

700 Steine herausgerissen

Demnig kennt die Zeichen von Antisemitismus in Deutschland: "700 Steine wurden schon rausgerissen, allein elf in Greifswald, aber was macht das schon bei 77 000." Alle Steine wurden durch neue ersetzt, in Greifswald dank eingegangener Spendengelder sogar um die dreifache Anzahl. "Ich habe gedacht, dass es mal weniger wird", antwortete Demnig auf eine Zuhörerfrage. Doch die Anfragen von Stolperstein-Paten und Kommunen halten an. Im vergangenen Jahr war Demnig 260 Tage quer durch Europa unterwegs. Manchmal verlegt er an nur einem Tag sogar Stolpersteine in drei Orten. Um sein Lebenswerk in Zukunft abzusichern, gründete Gunter Demnig bereits 2016 eine gemeinnützige Stiftung , die seitdem alle Zahlungen und Spenden erhält und sowohl den Künstler als auch inzwischen acht Mitarbeiter beschäftigt.

"Wir sind optimistisch, dass es bei uns bald auch eine vierte Stolperstein-Verlegung geben wird", dankte der Bad Brückenauer Initiator Dirk Hönerlage dem Kölner Künstler, dem sich Bürgermeister Jochen Vogel anschloss. "Wir geben mit diesen Stolpersteinen, die für uns eine Mahnung sein sollen, den Brückenauer Opfern ihre Heimat zurück."

 
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