Schon bevor der erste Ton erklang, das Konzert begann, gab's einen Grund zu größter Freude: Im Max-Littmann-Saal drängelte sich das Publikum so sehr, dass auch im seit Langem mal wieder geöffneten Saal auch die hinterste Ecke noch für zusätzliche Stühle genutzt werden musste. Das war ein Anblick, den es auch vor Corona noch nicht in dieser Heftigkeit gegeben hatte. Das Angebot war nach den Pandemiezeiten der Entwöhnung zu verlockend: das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Joana Mallwitz und die Geigerin Janine Jansen.
Zum Glück haben wir uns mittlerweile - zumindest die meisten von uns (hoffentlich) daran gewöhnt, dass auch Frauen am Dirigentenpult stehen, dass sie genauso gut oder schlecht sind wie ihre männlichen Kollegen, die sich mittlerweile auch damit abgefunden haben, dass sie ihren unumstrittenen Erbhof verloren haben. Dieses Diskussionsfass muss man zum Glück nicht mehr aufmachen (so gesehen war auch der Satz schon überflüssig).
Aber über Joana Mallwitz würde man auch reden, wenn sie ein Mann wäre, weil sie einen sehr individuellen Dirigierstil hat. Man stelle sich im Vergleich doch nur einmal ihren - offiziell bestallten - Amtsvorgänger beim BRSO, Lorin Maazel , vor. Der schritt, ohne eine Miene zu verziehen, zum Pult, stellte sich möglichst senkrecht in die Mitte, winkelte die Arme an, drückte die Ellenbogen an den Oberkörper und bewegte ab dieser Sekunde nur noch die Handgelenke. Wer das für typisch dirigentisch hält, muss völlig umdenken.
Im Dirigieren Geschichten erzählen
Für Joana Mallwitz ist Dirigieren - nein, der Begriff "Rhythmische Gymnastik" ist schon besetzt und würde auch viel zu kurz greifen - für sie ist nie nur ein Reproduzieren von Notentexten, sondern es ist ein Geschichtenerzählen, ein Umsetzen von komponierten Emotionen in sicht- und vermittelbare Bewegungen. Sie tanzt Musik für die Musiker . Sie hat Dirigieren offenbar nicht nur bei Martin Brauß und Eiji Oue in Hannover, sondern auch bei Mary Wigman studiert.
Für das Orchester ist dieses Tanzen auf die Musiker zu eine feine Sache, denn sie wissen, dass sie gemeint sind. Joana Mallwitz ist eine Perfektionistin, sie kümmert sich um - fast - jeden Einsatz, um jede Änderung der Tempi, des Rhythmus, der Klangfarben, der Stimmungen und übersetzt sie in ablesbare Bewegungen. So kann sich jeder bestens betreut fühlen und hat seinen Kopf freier für die Gestaltung seines Spiels. Aber er muss sich auch beobachtet fühlen.
Das ist vermutlich ein Grund, warum die Orchester, die Joana Mallwitz 2014 in Erfurt und 2018 in Nürnberg übernommen hat, so schnell so viel besser geworden sind, warum so viele Orchester sie einladen, warum sie 2020 die erste Dirigentin bei den Salzburger Festspielen ( Mozarts "Così") war. Nächsten Sommer wechselt sie als GMD zum Konzerthausorchester nach Berlin. Da gehört sie auch hin.
Messerscharfe Konturen
Wer ihre Ansprüche an die Musik und die Musiker kennt, der konnte nicht überrascht sein, wie überraschend gut Richard Strauss ' " Till Eulenspiegels lustige Streiche" waren. Mit glasklaren Farben, messerscharfen Konturen und mitreißenden Rhythmen erzählte sie die durchaus brutale Geschichte dieses schelmischen Narren, aber auch den Witz der Musik. Allein schon die differenzierte Behandlung des Eulenspiegel-Motivs in der Klarinette, das immer kläglicher wird, bis er von den empörten Bürgern aufgeknüpft wird. Ein wunderbarer Konzerteinstieg.
Peter Tschaikowskys Violinkonzert war nach der Uraufführung heftig umstritten, zum Teil aus inhaltlichen Gründen, zum Teil wegen der technischen Schwierigkeiten, die auch die großen Geiger immer wieder vor heftig beklagte Probleme stellte. Es galt lange als unspielbar. Es konnte sich unter anderem dadurch retten, dass die Interpreten dazu übergingen, über schwierige Stellen hinweg zu murmeln und zu spielen, sie ins Mystisch-Nebulöse zu heben. Bei der letzten Aufführung im Kissinger Sommer 2015 ist der junge Berliner Geiger Iskandar Widjaja derart krachend gescheitert, dass es bereits nach dem ersten Satz Buhrufe gab.
Perfekte Partnerschaft
Und jetzt also Janine Jansen. Scheitern würde sie nicht. Aber dass sie wirklich jeden Ton spielte, und das auch noch peinlich exakt und mit vollkommen unaufgeregter Virtuosität, damit konnte man angesichts anderer großer Namen nicht rechnen. Aber da hatte sie in Joana Mallwitz genau die richtige Partnerin, allerdings nicht nur wegen der Perfektion - auch konzeptionell hatten sich die beiden wunderbar abgestimmt, etwa in der Präsenz der Solovioline, die ja durchaus ab und zu im Orchester abtaucht als zusätzliche Klangfarbe, oder in der Ausgestaltung der Emotionalitäten, der dynamischen Entwicklungen oder der "Übergabeformalitäten".
Denn Janine Jansen war dank ihrer Virtuosität so frei, dass sie auch immer gestalten konnte. Und das Orchester war so spontan, dass es Impulse nicht nur gab, sondern auch kongenial aufnahm. Ein tolles Musizieren auf Augenhöhe.
Wo ist der Haken?
Die große Genauigkeit und Durchhörbarkeit hatte aber auch einen Haken: Plötzlich konnte man feststellen, dass die inhaltliche Kritik von Tschaikowskys Zeitgenossen so unberechtigt nicht war. Wenn man die Musik mal ohne ablenkendes Pathos und verschleiernde Nebel hörte, dann konnte man feststellen, dass es doch nicht ganz so gehaltvoll ist, wie man gerne glaubt. Als Kontrast zu dem virtuosen Feuerwerk spielte Janine Jansen das wunderbar ruhige Largo aus Bachs 3. Sonate für Violine solo BWV 1005.
Bei Ludwig van Beethovens 7. Sinfonie gibt es nicht mehr viele Möglichkeiten für Neuentdeckungen. Immerhin, einen Aha-Effekt konnte Joana Mallwitz erzielen: mit dem abgetönten, aber höchst auffälligen Einsatz der Hörner im vierten Satz. Hier konnte man sich einfach mitreißen lassen von der Musizierlust des Orchesters, von der Klarheit der Stimmenkonstellationen, vom Geheimnis des Trauermarschs im zweiten Satz, vom mitreißenden Feuer des Finales.
Da konnte man Richard Wagners Bezeichnung des Satzes als "Apotheose des Tanzes" plötzlich verstehen, denn nach kurzer Zeit tanzte nicht nur Joana Mallwitz, sondern Streicher und Bläser schunkelten im Rhythmus mit. Besser kann ein Einverständnis nicht sein. Nach tosendem Applaus ging man höchst animiert in die dunkle Nacht nach Hause.