Anita Diez ist 94 und wohnt in einer WG. Mit elf anderen teilt sie sich Wohnzimmer, Küche und Terrasse. Anders als in einer Studenten-Bude ist hier der Kühlschrank immer voll; es gibt keinen Zoff, wer die letzte Rolle Klo-Papier aufgebraucht hat oder wer den Putzdienst versemmelt hat. Viel wichtiger sind Erika Eichhorn, Erfinderin der Wohngemeinschaft, die Unterschiede zu einem Altersheim.
Auf dem Panorama neben dem Bett zieht sich die Elbe spiegelglatt durch die Stadt, in der Anita Diez aufgewachsen ist: Dresden. Heute liegt ihr Heimathafen an der fränkischen Saale. Von Ramsthal ist sie nach Bad Kissingen in die Senioren-WG umgezogen. Acht Jahre ist das her. Sie war eine der Ersten, die sich hier eingerichtet haben. Von allen lebt sie am längsten in der WG in dem gelben Gebäude zwischen Einfamilienhäusern und Gärtchen im Kissinger Stadtteil Garitz.
Ein Schoppen am Abend und rosa Rosen
Lila mag sie gern. Und gelegentlich einen Schoppen am Abend. Und ihre Möbel, die Anita Diez von zu Hause mitgebracht hat in das 23-Quadartmeter-Zimmer. Rosa Rosen aus Stoff, die Familie auf Fotos, Porzellanschalen und der Dalmatiner-Welpe auf dem Beistelltisch - "es ist ein Daheim, nur anders organisiert", sagt Erika Eichhorn, Geschäftsführerin der "Kissinger Sonne".
Während ihrer Ausbildung zur Krankenschwester hat Erika Eichhorn selbst zusammen mit anderen in einer WG gewohnt. 1999 gründete sie in Bad Kissingen einen ambulanten Pflegedienst. Immer wieder wollten Angehörige wissen, wieso sie nicht ein Altersheim eröffnen könnte, erzählt sie. Ein Altersheim, das will sie nicht, antwortet sie den Söhnen und Töchtern. "Mir ist der familiäre Charakter sehr wichtig", sagt Erika Eichhorn. "Die Leute wollen wahrgenommen werden", schiebt sie hinterher, "und nicht nur eine Nummer sein." Also richtete sie eine Wohngemeinschaft für pflegebedürftige Menschen ein - die "Senioren-WG".
Abwechslung im Obergeschoss
Entertainment kostet nicht extra. Heute sind alle WG-Bewohner ausgeflogen. Das Ballspiel hat sie vom Erdgeschoss nach oben gelockt. Dort kümmern sich Betreuer um die Tagesgäste. Das sind pflegebedürftige Frauen und Männer, die morgens von zu Hause abgeholt und später wieder heimgebracht werden. Die Tagespflege: das dritte Element der "Kissinger Sonne". Mal wird musiziert, mal kommen Kindergartenkinder vorbei; immer wieder andere Gesichter. Für die Bewohner der WG im unteren Teil des Hauses ist die Abwechslung oft einen Ausflug ins Obergeschoss wert.
Wollen statt müssen
50 Angestellte arbeiten für Erika Eichhorn in ihrem Pflege-Unternehmen. Pflegefachkräfte, Busfahrer, Reinigungskräfte und die, die den Haushalt für die WG-Bewohner schmeißen. Die Suppe steht auf dem Herd, der Schinken-Nudelauflauf gratiniert gerade im Backofen. Später an diesem Nachmittag werden die Damen und Herren beim Käffchen ein Stückchen Käsekuchen naschen. Selbst gemacht. Wer will, kann beim Kochen mithelfen. Gutbürgerliche Hausmannskost - auf den Tisch kommt, was die Bewohner kennen und mögen - so die Devise. Für die bedeutet das: eine ordentliche Portion Selbstbestimmtheit, meint Erika Eichhorn. "Sie fühlen sich wertgeschätzt."
Ein Unternehmen - drei Dienste
Routine: Solange die Betreuerinnen das Frühstück für die WG-Bewohner richten, kümmern sich Pflegefachkräfte um das Morgenprogramm. Alles dabei - von Pflegegrad 1 bis 5. Für die WG-Bewohner sorgt der ambulante Pflegedienst von Erika Eichhorn. Trotzdem: Senioren-WG, Tagespflege und ambulanter Dienst funktionieren jeder für sich und sind strikt getrennt. Darauf legt die 64-Jährige großen Wert, betont sie mehr als einmal. 24 Stunden, drei Schichten: In der WG ist immer jemand da. Wer für sich sein will, zieht sich in seine vier Wände zurück. Die sind begehrt. Auf einer Liste stehen die Namen derer, die darauf warten, dass eines der zwölf Zimmer in der WG frei wird. Dann: Probewohnen. Passt der- oder diejenige in die Gruppe?
Grund zum Lächeln
Die Bewohner der Pflege-WG stammen aus dem Landkreis und von ganz woanders her. Manche bekommen jeden Tag Besuch von ihren Liebsten. Andere haben keine mehr. Anita Diez lebt in Appartment Nummer 2. Die 94-Jährige sitzt in ihrem Rollstuhl zwischen dem Krankenbett mit der Rosen-Bettwäsche und der dunklen Holzkommode. Darauf ein Bild ihrer Enkelin. Beide Frauen lächeln.