Der Einzug der Abgeordneten ist feierlich, dem Anlass angemessen: schwarz-rot-goldene Fahne vorneweg, Deutschlandlied auf den Lippen, 1. und 3. Strophe. Es geht um die Zukunft Deutschlands. Und zwar dem von 1848. Achtklässler des Franz-Miltenberger-Gymnasiums schlüpften in die Rolle der Delegierten der ersten Nationalversammlung der Frankfurter Paulskirche . Und lernten Geschichte anders kennen.
Keimzelle der Demokratie
Es war eine spannende, aber von vielen enttäuschten Hoffnungen geprägte Zeit, als die Demokratie in Deutschland zu keimen begann. Für die meisten heutigen Schüler ist sie aber eines: weit weg.
Die Begriffe Republik und Monarchie werden vielen etwas sagen. Aber was bitte bedeuten Erb- und was Wahlkaisertum? Was unterscheidet das allgemeine vom Zensuswahlrecht? Wer weiß, welche Ländereien vor 175 Jahren die groß- und die kleindeutsche Lösung umfasste?
Lehrbücher für die 8. Klasse am Gymnasium vermitteln diese Begriffe theoretisch. Doch Lehrerin Barbara Libner erkannte, dass Schüler sie „erleben“ müssen, um ihre Bedeutung zu begreifen.
Sechs Stunden für Historien-Spektakel
Also bot sie – neben der normalen Vermittlung historischer Fakten und Begriffe – ihrer 8a einen Projekttag zur Frankfurter Nationalversammlung. Es war das dritte Rollenspiel dieser Art.
Stellvertretender Schulleiter Martin Steinel genehmigte sechs Extra-Unterrichtsstunden. „Ich wollte Verfassungsgeschichte ein einziges Mal so interessant machen, dass sie lebendig wird“, so Libner.
Parlament in der Schulbibliothek
Und so mutet die als Ort der Nationalversammlung auserkorene Schulbibliothek mit Rednerpult, U-förmig aufgestellten Tischen und schwarz-rot-goldenen Wimpeln wirklich an wie ein Parlament. Die Kleiderordnung entspricht der Zeit vor 175 Jahren. Wie 1848 dominieren Frack oder schwarzer Anzug mit weißem Hemd, Zylinder, Melone (bei manchen Partyhüte) und Halstuch.
Gemeinschaftlich patriotisch ziehen die „ Abgeordneten “, angeführt von Präsident Heinrich von Gagern , alias Maximilian Kammer, in die „Paulskirche“ ein. Man ist sich einig, dass ein neues vereintes Deutschland entstehen soll. Das ist es aber mit den Gemeinsamkeiten.
Heiße Diskussionen unter den vier Fraktionen
Um die Verfassung des neuen Staates ringen vier Fraktionen erbittert: das zum Teil katholische konservative „Café Milani“, die konservativen Nationalliberalen des „Casino“ auf der einen Seite. Und auf der anderen Liberale des „Württemberger Hofs“ und unter „Deutscher Hof“ vereinte demokratische Republikaner. Jeder will seine Überzeugung in der Verfassung verewigt sehen.
Heiß diskutiert die Frage, ob nur reiche Gebildete oder auch Bauern, Arbeiter und gar Frauen wählen dürfen. Und wenn, ab welchem Alter: 21 oder 25? Das konservative Lager befürwortet ersteres; Linksliberale und zuvorderst die Demokraten wollen das Wahlrecht für alle.
Frage nach der Macht des Kaisers
Und wenn es einen Kaiser als Staatsoberhaupt gibt (was die ganz Linken ablehnen): Welche Machtfülle soll ihm zustehen? Soll er die Regierung samt ihrer Minister ernennen oder darf das nur das Parlament? Kann dieses den Monarchen absetzen, wenn er sich als untauglich erweist? Wird er gewählt wie bei den Kurfürsten im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation? Oder geht die Krone gemäß der Erbfolge automatisch auf einen (männlichen) Nachkommen über?
Soll die Macht der Einzelstaaten und ihrer Fürsten zugunsten einer Zentralregierung zurückgedrängt werden? Oder ihre Wünsche starkes Gewicht erhalten?
Und schließlich: Wie stark soll die Großmacht Österreich eingebunden werden: als Teil des Deutschen Reiches, als Kooperationspartner, oder gar nicht?
Diskussion und Kompromisse
Die Schüler sind gut vorbereitet; einige streiten leidenschaftlich. Ab und an muss Barbara Libner als geheime Moderatorin eingreifen. Geht es doch nicht nur ums Üben von Diskussionskultur. Kompromisse müssen her.
Und so beschließt die „gymnasiale Nationalversammlung“ folgendes: Es gilt das allgemeine Wahlrecht, mit zwei Einschränkungen: Mitstimmen darf man erst ab 25 Jahren; mittellose Bauern, Handwerker und Arbeiter dürfen wählen, aber nicht gewählt werden. Als Zugeständnis der Liberalen an die Konservativen steht die Erbmonarchie, das Vererben der Krone. Aber der Kaiser darf bei Versagen in Krisenzeiten abgewählt werden – und zwar vom Volk.
Österreich versagt sich der Mitwirkung
Und da Österreich und Kaiser Franz Josef I. (ab 1854 Mann von Sissi) sich dem Beitritt seiner deutschsprachigen Gebiete zum großdeutschen Reich versagen, bleibt nur die kleindeutsche Lösung mit starkem Preußen an der Spitze.
Speziell was die Abwahl des Kaisers betrifft, sind die Schüler revolutionär. Was aber nicht wundert, tragen sie doch das Demokratieverständnis des 21. Jahrhunderts in sich. Adlige besitzen demnach keine besonderen Privilegien mehr.
Beschlüsse im „ARD-Brennpunkt“
Am Ende verkündet „Reinhold von Gagern“ stolz die Beschlüsse der Versammlung im „ARD-Brennpunkt“. Willkommen zurück in der Neuzeit.
Hintergrund
Unter dem Eindruck der Revolution von 1848/49 traf sich zwischen Mai 1848 und Mai 1849 in der Frankfurter Paulskirche das vorläufige Parlament eines angestrebten Deutschen Reiches. Am 28. März 1849 beschloss es eine Reichsverfassung, der die meisten deutschen Einzelstaaten zustimmten, aber nicht der preußische König und große Einzelstaaten wie Bayern und Hannover. Nachdem dieser die ihm angediente Kaiserkrone ablehnte, wurde die Nationalversammlung nach und nach entmachtet und dann aufgelöst.
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