Man betritt den Max-Littmann-Saal und glaubt plötzlich, man ist in Berlin-Mitte (früher Ost). Man wähnt sich in einem Hinterhof des berühmt-berüchtigten "Tacheles". Der Blick fällt auf eine ruinierte Brandmauer mit einer verrosteten Stahltraverse, und unten, in ziemlichen Kontrast, ein paar Graffiti zum Thema Liebe: ein Strichmännchen-Pärchen, zwei Herzen, einmal "je t'aime". Man riecht förmlich den Abrissstaub. Das soll passen zu dem Thema "Liebe"? Und man denkt sofort: "Hoppla, das wird wohl ein sehr kontroverser Abend!"
Das wird es auch. Aber zu allererst wird es ein Abend der permanenten, aber wohligen Überforderung des Publikums. Auf der einen Seite will man keinen Ton, keine Pointe, keine Mimik verpassen; auf der anderen Seite gibt es kaum Momente, in denen man nicht lachen muss. Denn die beiden Geigerinnen (und Ensemblegründerinnen) Angelika Bachmann und Iris Siegfried, die Cellistin
Sonja Lena Schmid und die Pianistin Olga Shkrygunova sind zwar als Klavierquartett angekündigt, und im Grunde genommen stimmt das ja auch. Aber es ist nur ein Deckname, um sich jenseits aller musikalischer Wohlanständigkeit und auch Langeweile so richtig austoben zu können.
Das können sie schon deshalb, weil alle vier fantastische Virtuosinnen sind, die jenseits aller technischen Bedenklichkeiten spielen können, die aus ihren Instrumenten Klänge und Effekte herausholen, die gar nicht drin sind. Und sie nutzen ihre Kapazitäten zu einem begeisternd kreativen, respektlosen Umgang mit der Musik. Wenn es keine Eigenkompositionen sind, beginnen sie immer mit einem klassischen Werk, das man zu Beginn noch nicht oder am Ende nicht mehr erkennt, weil die musikalischen Grundgedanken immer bis in die Extreme gesteigert werden. Natürlich gibt es auch enorm lyrische Momente. Aber da kommt dann immer schnell ein Punkt, an dem das Quartett der Idylle misstraut.
Es sind die umwerfend komischen und geistreichen Dialoge und Songtexte, mal schmeichelnd, mal gallig und vergiftet: "Die Witwenschaft ist das Mindeste, was man von der Liebe erwarten kann" oder "Der beste Garant für Einsamkeit ist die Ehe." Aber man gerät ins Schmunzeln, wenn Sonja Lena Schmid singt: "Ich spiel so leidenschaftlich gern die 2. Geige ". Die Begründung für das Wunschleben in der Mittelmäßigkeit kommt am Ende: "Die die 1. Geige spielen will, kriegt keinen Mann."
Und dann sind alle vier auch noch tolle Schauspielerinnen und Akrobatinnen. Da sitzt jede Mine, jeder Blick, da wird in großen Gebärden die Liebe eingekreist, da gibt's die abstrusesten Spielhaltungen und Gruppierungen, in denen jede das Instrument der nächsten spielt. Da werden Sägen zu Singen gebracht, da wird schon mal die Kollegin mit dem Stachel des Violoncellos erstochen, da fungiert auch mal Vivaldis "Winter" als Soundtrack zum Zickenkrieg. Das klingt nach Chaos, und das ist es auch, aber minutiös choreographiert und einstudiert.
Da merkt man die Handschrift von Franz Wittenbrink , dem Leib- und Magenregisseur des Quartetts. Ja, und dann taucht plötzlich Oskar auf, ein Mann! Klar, er muss ran, denn jetzt geht es um ein Thema, zu dem Frauen eigentlich überhaupt nichts beitragen können außer Unwissenheit: zu Beethovens Variationen über Mozarts "Bei Männern, welche Liebe fühlen". Was wissen denn Sonja Lena Schmid und Olga Shkrygunova davon! Er ist der einzige seines Geschlechts, der es die letzten Jahre mit dem Quartett ausgehalten hat.
Oder der geduldet wurde, weil er es sich zur Regel gemacht hat, nur das zu tun, was die vier Damen wünschen? Freilich kann er gar nicht anders in seiner Existenz als Handpuppe, er muss machen, was die Damen neben ihm ihm abverlangen. Aber kann man da Liebe spüren? Oskar ist raffiniert, tut so, als ob, gibt den Charmeur. Und wieder fallen die vier - und nicht nur sie - auf ihn herein. Er taucht noch ein zweites Mal auf. Aber auch wenn er sich da etwas herrischer gibt: Mit seiner Emanzipation wird das noch ein bisschen dauern.
Es ist ein extremer, ein temporeicher, ein begeisternder, ein erschütternder Abend auf einem außergewöhnlich konstanten hohen Niveau. Und da man an sich selbst, der nur zuschaut und zuhört, eine wachsende Tendenz zur Schnappatmung feststellt - denn solche Anstrengungen ist man einfach nicht mehr gewöhnt - fragt man sich immer drängender, wie die vier Frauen diesen Auftritt schon rein physisch ohne erkennbares Ermatten durchhalten, wie sie sich über zwei Stunden ihre Konzentration bewahren und ihre akrobatischen Nummern durchziehen können - und dabei immer kompromisslos präzise musizieren.
Aber wie es halt geht im Leben: Der Abend endet traurig - für Salut Salon. Es kam bei den Zugaben schon ein bisschen Melancholie auf, weil der Auftritt der definitiv letzte mit ihrem Programm "Liebe" war. Jetzt beginnen wieder die Mühlen einer Neuerarbeitung und Einstudierung. Aber traurig - und ein bisschen mitleiderregend - vor allem deshalb, weil die eingangs gestellte Frage "Was ist Liebe?" schon wieder oder immer noch unbeantwortet blieb. Und man entlässt Salut Salon in die neblige, kalte Nacht mit dem bangen Gedanken: "Werden sie es je erfahren?"