Die Würfel sind gefallen, das Ergebnis des Kissinger KlavierOlymps 2022 steht fest. Die Jury vergab den 1. Preis an Roman Borisov (19), der vor einem halben Jahr aus Russland kam und seitdem an der Berliner Musikhochschule " Hanns Eisler " bei Eldar Nebolsin studiert. Der 19-jährige Pianist überzeugte die Jury mit seinen hochmusikalischen, intuitiven und gleichzeitig strukturbewussten Interpretationen bei Werken von Lowell Liebermann, Ludwig van Beethoven , Serge Rachmaninoff, Johannes Brahms und Sergej Prokofjew. Dabei bewies er bedingungslosen Gestaltungswillen und bestach durch seine natürliche und stimmige Bühnenpräsenz.
Tony Siqi Yun aus Kanada wurde der zweite Preis zuerkannt. Die Jury beeindruckte seine glasklare, virtuose Gestaltungskraft. Der dritte Preis wurde an den 25-jährigen Ariel Lanyi aus Israel überreicht. Den Publikumspreis erhielt Tony Siqi Yun. Weitere Pianisten des Wettbewerbs waren Lukas Sternath (Österreich), Suah Ye (Südkorea) und Lauren Zhang (USA).
Hoch qualifiziertes Teilnehmerfeld
Der Kissinger KlavierOlymp konnte in diesem Jahr seine 20. Auflage feiern - wer hätte 2003, bei der Gründung - damit gerechnet, dass sich das zarte Pflänzchen so lange halten und dabei so gut verwurzeln könnte. Und dem Anlass angemessen war das Teilnehmerfeld ausgesprochen hoch qualifiziert. Noch nie hatte es die Jury mit sechs jungen Pianistinnen und Pianisten zu tun, die in ihren künstlerischen Leistungen so dicht beieinander lagen. Entsprechend intensiv, letztlich aber einvernehmlich, war die Bewertungsdebatte.
Die fünf Mitglieder der Jury waren Thomas Ahnert (Musikkritiker der Saale-Zeitung, Dramaturg und Mitbegründer des KlavierOlymps), Manuel Brug (Musikkritiker der Welt), Ulrich Hauschild (Kulturmanager), Sonia Simmenauer (Geschäftsführerin Impresariat Simmenauer) und Alexander Steinbeis, der Intendant des Kissinger Sommers. Der hatte auch die sechs Teilnehmer ausgesucht und eingeladen.
Schon vor einigen Jahren war die Regelung eingeführt worden, dass alle Teilnehmer eine Sonate von Beethoven oder Mozart und ein Werk nach 1950 spielen müssen.
Interessen haben sich verschoben
Da jetzt alle jungen Leute Beethoven spielen müssen ( Mozart wird wegen seiner interpretatorischen Schwierigkeit gerne gemieden), können sie sich über ihn nicht mehr profilieren und suchen sich Komponisten, die nur selten zu hören sind. Und das sind vor allem Vertreter der Moderne. Plötzlich tauchten Namen wie George Benjamin, Lowell Liebermann, Unsuk-Chin, Luciano Berio oder György Ligeti auf. Dafür ist die "vollfette" Romantik auf dem Rückzug - mit Ausnahme von Franz Liszt und seinen raffinierten Phantasien und Paraphrasen. Und ein Name tauchte in diesem Jahr erstmals überhaupt nicht auf: Frédéric Chopin . Die Interessen haben sich verschoben.
Beim traditionellen Abschlusskonzert am Sonntagabend können sich alle sechs Teilnehmer - jeder bekommt 20 Minuten - von ihrer besten Seite zeigen. Sie wissen, dass sich da das Ergebnis noch einmal verschieben kann und das hat es immer wieder einmal gegeben. Die einen spielen ein Werk, das ihnen in ihrem Solorecital besonders gut gelungen ist - oder gerade nicht. Die anderen wollen eine weitere Facette zeigen und entscheiden sich für Zusätzliches. Zur Freude des Publikums spielten die drei, die sich für Wiederholungen entschieden hatten, genau die Werke, mit denen sie bereits gepunktet hatten. Und das ist ja auch durchaus ein Zeichen von Zuversicht.
Dass das Abschlusskonzert am Sonntagabend mit allen sechs Teilnehmern neuerdings nicht mehr im Rossini-Saal, der eigentlichen Heimat des KlavierOlymps, sondern im Max-Littmann-Saal stattfindet, hatte im vergangenen Jahr natürlich auch mit den strengen Hygiene- und Abstandsvorschriften zu tun. Aber mittlerweile ist die Nachfrage nach diesem Konzert so groß geworden, dass der Rossini-Saal zu klein wäre, um alle Kartennachfragen zu befriedigen. Aber auch insgesamt können die Veranstalter mit dem Ergebnis hoch zufrieden sein. Mit 1300 verkauften Karten blieb die starke Auslastung aus dem Vorjahr konstant.
Das Abschlusskonzert des KlavierOlymps wurde - wie schon in den vergangenen Jahren - vom Bayerischen Rundfunk mitgeschnitten. Es wird am 29. Oktober um 15.05 Uhr auf BR-Klassik ausgestrahlt.
Konzert 1, Lukas Sternath
Der arme Lukas Sternath hatte die Ausschreibung wohl nicht genau gelesen. Statt Mozart oder Beethoven spielte er Mozart und Beethoven . Mozarts Adagio h-moll KV 540 musste er deshalb extra einstudierten, aber er nutzte diesen recht meditativen Satz geschickt als gleichsam verbundene Ouvertüre zu Beethovens E-dur-Sonate op. 109. Technisch ist der 21-Jährige über jeden Zweifel erhaben, und auch als melodischer Analytiker mit Freude an der Umsetzung konnte er begeistern. Was etwas störte, war seine Neigung zu forcierten Tempi, die zwar nicht die Transparenz beschädigten, aber die differenzierte Erzeugung von Klangfarben einengten - die er eigentlich hat, wie sich im langsamen Satz zeigte. Raffiniert gespielt waren Ligetis Schwerst-Etüden "Arc-en-ciel" und "L'escalier du diable", die aber das geforderte "leggiero" nicht ganz erreichte. Ganz Analytiker war er bei Brahms "fis-moll-Sonate", die er durchaus spannend entromantisierte und modernisierte. Bei Bartóks Sonate Sz. 80 hätte man sich ein bisschen mehr Elastizität und Farben gewünscht.
Konzert 2, Lauren Zhang
Die 22-Jährige aus den USA ist ein Multitalent - sie studiert auch Neurowissenschaften und Chemie. Vielleicht liegt's daran, dass sie es noch nicht gelernt hat, auf ihr Publikum zuzuspielen. Und dass ihr Programm zweigeteilt war: Beethovens A-dur-Sonate op. 101 hatte sie gut analysiert, aber in ihren technischen Möglichkeiten blieb sie öfters hinter ihren Ansprüchen zurück. Und bei Ravels "Gaspard de la nuit" hätte man sich spannendere Klangfarben gewünscht - vor allem bei der Totenglocke in "Le gibet". In Bachs "Chromatischer Phantasie und Fuge" BWV 903 litt die Klarheit mitunter unter dem Tempodruck. Aber bei Liebermanns "Gargoyles" ("Wasserspeier") war Lauren Zjhang bei ihrer Musik angekommen. Da spielte sie rückhaltlos. Ganz fabelhaft gelangen ihr die klangüppigen "Reminiscences de Don Juan", Liszts Paraphrase aus der Mozart-Oper . Da warf sie sich förmlich hinein in die Musik und zeigte mitreißend, dass die Arie "La ci darem la mano" eigentlich eine angekündigte Vergewaltigung ist - da hilft auch keine "Champagnerarie" hinterher.
Konzert 3 , Roman Borisov
Dass er es weit nach vorne schaffen würde, war sehr schnell klar: Liebermanns Drei Impromptus waren außerordentlich differenziert in Emotionalität und Klangfarben, und das nicht nur, weil sich der 19-Jährige traute, wirklich leise zu spielen. Seine G-dur-Sonate op. 14/2 von Beethoven atmete eine gewisse musikalische Natürlichkeit und Sanglichkeit, klare Strukturierungen und eine Zielstrebigkeit, die ihm Freiraum bot für die Gestaltung. Und so fand er auch den Humor in Beethovens Musik. Eine Sensation waren Rachmaninows "Corelli-Variationen", ein Werk, das nicht einmal der Komponist selbst mochte, denn das Thema ist nicht gut geeignet. Aber Borisov erzeugte mit seinem Zugriff eine derartige Spannung, dass der Fortgang große Neugier weckte. Bei Brahms ' Vier Klavierstücken op. 119 wurde der Altersabstand deutlich; auf der einen Seite eine große Abgeklärtheit des 63-Jährigen, mit großer Ruhe gespielt, und plötzlich angejazzte Erinnerungen aus fernen Zeiten. Dass Prokofjews 8. Sonate wie ein Steinbruch klang, liegt an der Komposition.
Konzert 4, Suah Ye
Die Südkoreanerin (* 2000) begann mit Bachs Präludium und Fuge g-moll BWV 885 aus dem Wohltemperierten Klavier. Sie spielte mit nüchternem, trockenem Anschlag, der den einzelnen Tönen viel Luft zum Atmen ließ. Ein Anschlag, der auch die Fuge prägte, die dadurch durchhörbar blieb mit der Betonung der Themenköpfe, aber auch ein bisschen automatisch wurde. Beethovens "Waldsteinsonate" litt unter dem Spagat, dass der pulsierende Einstieg ein Klima der Spannung schafft, die Transparenz im Folgenden aber nicht verloren gehen darf. Da hätte sie, auch im Schlusssatz, nachgeben können. Aber ihre forcierten Tempi zulasten der Gestaltung machten die Musik uninteressant und fehleranfällig. Unsuk-Chins Etüde Nr. 5 erwies sich als kleine raffinierte, souverän gespielte Anschlagsstudie. Bei Ravels "Oiseaux tristes" und "Une barque sur l'océan" erwies sich Ye als ausgezeichnete Stimmungsmalerin, was bei Meeresbildern nicht einfach ist. Bei Schumanns "Symphonischen Etüden konnte man etwas den Bereich unterhalb des Mezzoforte vermissen.
Konzert 5, Ariel Lanyi
1997 in Jerusalem geboren und mit 25 Jahren der Senior des diesjährigen Quartetts, hatte er ein facettenreiches Programm zusammengestellt, mit dem sich viel zeigen ließ. Andrerseits tat auch er sich ein bisschen schwer, auf das Publikum zuzugehen. Er begann mit den beiden ersten der vier "Moments musicaux" D 780 - eine schöne Eröffnung mit erzählerischem Grundgestus und einem Schuss Geheimnis und fern von jeglichem Kitsch. George Benjamins "Meditation on Haydn's Name" war musikalisch nicht allzu spannend, aber ein Prüfstein für die Anschlagskontrolle, der "Realtivity Rag" war dafür umso geistreicher mit seinen zerfleddernden Rhythmen. Bei Albeniz` "El polo" und "Lavapiés" erwies sich Lanyi nicht nur als begnadeter Rhythmiker, sondern auch als Klangbildner. Schade, dass er bei seinem Hauptwerk, Beethovens großer "Hammerklaviersonate" op. 106, immer mal den Eindruck erweckte, nicht wirklich souverän zu sein, nicht immer die passenden Lösungen auf Beethovens Problemstellungen gefunden zu haben.
Konzert 6, Tony Siqi Yun
Das Beste spielte der 21-Jährige aus Toronto gleich zu Beginn: Liszts "Bénédiction de Dieu dans la solitude" aus dem Zyklus "Harmonies poétiques et religieuses", eine ziemlich unbekannte Sache. Aber er schaffte es durchaus eindrucksvoll, ein ganz plastisches Stimmungsbild zu zeichnen von der meditativen Ruhe der Einsamkeit über eine ständige Steigerung in die völlige religiöse Euphorie, die aber allmählich auch wieder geerdet wird - ein toller musikalischer Spannungsbogen.
Beethovens D-dur-Sonate op. 28, die "Pastorale", fiel dagegen gerade gemäßigt aus, obwohl er sich auch hier als überzeugender Gestalter erwies, der sogar in diesem Werk humorvolle Ansätze findet. "Wasserklavier" aus Berios "6 Encores pour piano" gehört zu den Werken, die man nicht unbedingt braucht. Und trotzdem war es fabelhaft, mit elaboriertem Ton gespielt.
Der Sonate Nr. 3 op. 5 von Brahms am Ende zeigte sich Tony Siqi Yun spieltechnisch absolut gewachsen, aber er spielte sie sehr zerstückelt. Die langen Gedankenbögen brauchen vielleicht nur noch ein bisschen Zeit.