
Reinhold Nürnberger ist in Sachen Leichtathletik eine Instanz - über den Landkreis hinaus. Ein Fachmann, dessen Wort nicht nur beim TSV Bad Kissingen Gewicht hat, wo der 63-Jährige seit vielen Jahren Sportlerinnen und Sportler zu beachtlichen Erfolgen führt. Vier seiner Athletinnen standen bereits im Nachwuchs-Nationalkader. So wurde Lisa Hofmann im Jahr 2010 in Moncton/Kanada Vierte bei der U20 Weltmeisterschaft über 400 Meter Hürden, Isabell Hergenröther im Jahr 2011 Vierte bei den Olympischen Jugendspielen in Trabzon/Türkei über 400 Meter Hürden der U18. Klein, aber fein ist die aktuelle Trainingsgruppe mit zwei weiteren Hürdenläufern: Niklas Amthor wurde in diesem Jahr Vierter bei den Deutschen Jugendmeisterschaften über 400 Meter Hürden, Moritz Fischer, gewann bereits zwei Mal bei Bayerischen Meisterschaften die lange Hürdenstrecke. In seiner aktiven Karriere war Reinhold Nürnberger unter anderem Deutscher Jugend-Meister mit dem Crosslaufteam des TSV Bad Kissingen .
Herr Nürnberger, sind Sie überrascht vom Abschneiden der deutschen Leichtathleten bei der Weltmeisterschaft in Ungarn ? Keine Medaille – so schlecht waren die DLV-Athleten noch nie…
Reinhold Nürnberger: Mit viel Glück hatten wir im vergangenen Jahr in Eugene zwei Medaillen gewonnen und nur ganz wenige Platzierungen unter den besten Acht erzielt. Daher war die medaillenlose WM in Budapest keine allzu große Überraschung mehr. Auch wenn ich auf Edelmetall im Speerwurf und Zehnkampf der Männer durchaus einige Euros gesetzt hätte.
Trainieren unsere Athleten zu wenig oder schlichtweg falsch?
Das ist eine schwierige Frage, die ich so einfach und pauschal sicherlich nicht für alle Disziplinen einschätzen kann. Ein Mann oder eine Frau, die in Deutschland studiert, kann niemals das Trainings-Pensum absolvieren, welches an amerikanischen Universitäten möglich ist. Unsere wenigen Athleten, die unter profihaften Bedingungen ganztags trainieren können, sollten zusammen mit ihren Trainern allerdings die Strukturen vor Ort genau hinterfragen. Als positives Beispiel will ich unsere durchaus erfolgreichen Hindernisläuferinnen unter ihrem Trainer Wolfgang Heinig nennen. Die trainieren sehr hart mit enorm hohen Umfängen auf Weltniveau. Auch die 400-Meter-Hürdenläufer machen unter dem ehemaligen Olympiasieger Volker Beck enorme Fortschritte.
Unglaublich, dass die Niederlande mittlerweile eine echte Sprintnation sind und auch über die Mittel- oder Langstrecken Medaillen gewinnen. Was machen die besser?
Ja, die Medaillenschmiede der Niederländer in Pappendal ist eine echte Erfolgsgeschichte. Da trainieren behinderte und nicht behinderte Athleten unter höchst professionellen Gegebenheiten ganztags. Trainer, auch aus dem Ausland, Physiotherapeuten, Biomechaniker und Ernährungswissenschaftler stehen vor Ort stets zur Verfügung. Den Spitzensportlern fehlt es an nichts. Die finanzielle Entlohnung für die besten Athleten des Landes soll ganz gut sein. Der Schweizer Laurent Meuwly, ein absoluter Befürworter der Zentralisierung von Spitzensportlern, formte nicht nur 400-Meter-Hürdenweltmeisterin Femke Bol zum Leichtathletik-Star, sondern führte auch die niederländische Staffel über 4 x 400 Meter zum WM-Sieg in Budapest.
Dass einige der besten deutschen Leichtathleten wie Gina Lückenkemper, Leo Neugebauer oder Konstanze Klosterhalfen in den USA trainieren, sich dort besser aufgehoben fühlen, ist ja auch kein Ruhmesblatt für Deutschland, oder?
Der deutsche Rekordhalter im Zehnkampf, Leo Neugebauer, profitiert sicherlich als Student von den überragenden Trainingsbedingungen der University of Texas. Deren finanzieller Etat soll ja genau so hoch sein wie der für den gesamten olympischen Sport hierzulande. Bei den diesjährigen deutschen Jugendmeisterschaften in Rostock wurde an zwei Ständen intensiv Werbung für Sport-Stipendien in den USA betrieben. Auch mein Athlet Niklas Amthor wurde nach seinem erfolgreichen Abschneiden dort von Vermittlern kontaktiert. Dass sich Gina Lückenkemper und Konstanze Klosterhalfen einer hochkarätigen internationalen Trainingsgruppe angeschlossen haben, empfinde ich als durchaus sinnvoll. Allerdings resultieren die Bestzeiten von Gina Lückenkemper über 100 Meter (10,95 Sekunden) und 200 Meter aus den Jahren 2016 und 2017, wo sie ja noch in Deutschland trainierte. Wunder vollbringen die US-Amerikaner – zumindest mit sauberen Mitteln – sicherlich auch nicht. Unsere Spitzentrainer müssen sich international gesehen sicher nicht verstecken. Sie sind im Ausland in vielen Disziplinen begehrt und wenn die Strukturen passen, auch teils sehr erfolgreich.

Hierzulande wird „föderal“ trainiert. Richtig oder falsch?
Auch wenn sich vereinzelt bereits sehr starke Trainingsgruppen gebildet haben, gibt es noch zu viele „Einzelgänger“. Meiner Meinung nach sollten wir versuchen, dass möglichst viele Athleten und Athletinnen aus einer Disziplingruppe zentral an einem Olympiastützpunkt trainieren und da optimal betreut werden. Anderseits setzten zwei norwegische Weltmeister , Carsten Warholm und Jakob Ingebrigtsen, voll und ganz auf ein föderales Umfeld. Allerdings, so ist zu hören, können sich sowohl die Trainer der Niederländer in Pappendal wie auch die Trainer der beiden so erfolgreichen Norweger hauptberuflich voll und ganz auf ihre Kernaufgabe konzentrieren. Eine ganzheitliche Betreuung unserer wenigen Spitzenathleten sollte unbedingt angestrebt werden.
Auf den Sprintstrecken waren wir schon immer abgehängt. Aber auch in den technischen Disziplinen läuft einiges schief, wenn im Werferland Deutschland zum Beispiel nur ein Speerwerfer, aber keine Speerwerferin bei der WM dabei ist. Werden Talente einfach nicht mehr rechtzeitig entdeckt, was beispielsweise Ex-Diskus-Olympiasieger Lars Riedel mutmaßte?
Die These von Lars Riedel würde ich sofort unterschreiben. Die Talentsichtung in Deutschland ist momentan in keinster Weise zufriedenstellend und schon gar nicht mit dem früheren System der DDR vergleichbar, bei dem schon in jungen Jahren die Begabung der Kinder erkannt wurde. Allerdings sollte ein jeder Sportlehrer in der Lage sein, bei einem Schüler, einer Schülerin einen schnellen Arm oder flotte Beine zu erkennen und solche Schüler zu motivieren, mal bei einem Verein anzuklopfen. Im Sprint wird es in naher Zukunft nur ganz schwer möglich sein, in einer Einzeldisziplin Edelmetall bei Welttitelkämpfen zu gewinnen. Da sollten wir die Förderung überdenken.
Wie sieht es eigentlich mit Trainern und Übungsleitern im Landkreis und Bad Kissingen aus?
Der TSV Oberthulba und der TSV Münnerstadt sind recht gut bestückt. Paul Fella hätte in Hammelburg sicherlich nichts gegen eine Verjüngung im dreiköpfigen Trainerteam. In Rottershausen, Ramsthal und Bad Brückenau dominiert der Breitensport bei ein bis zwei Übungsleitern und bei uns beim TSV Bad Kissingen bin ich derzeit Einzelkämpfer als Trainer der Jugend U20.
Und wie können sich diese fortbilden?
Im nächsten Jahr findet im Bezirk wieder ein Leichtathletik-Übungsleiterlehrgang statt. Die Trainer und Trainerinnen können sich landesweit aussuchen, für welche Disziplin sie sich weiterbilden wollen. Das Angebot an qualifizierter Fortbildung ist meiner Meinung nach sehr gut. Die Dozenten sind nicht selten Landes- oder Bundestrainer. Die nicht unerheblichen Kosten dafür tragen die Vereine oder eben der Trainer. Ein Manko, welches dringend beseitigt gehört.
Im Schulsport hat die Leichtathletik noch ihren Platz. Gibt es da vielleicht zu wenig Kontakt zu den Vereinen? Oder müssten die Vereine in die Schulen kommen?
Wie mir Roland Fröhlich, Trainer in Oberthulba und pensionierter Sportlehrer berichtet, hatte die Leichtathletik früher einen sehr viel höheren Stellenwert in den Schulen. Der Kontakt der Schulen zu den Vereinen könnte mit Sicherheit viel besser sein. Von Vorteil ist es da sicherlich wenn ein Sportlehrer sich im Verein als Trainer/in engagiert, wie es in Oberthulba auch der Fall ist. Da streckt Christina Füller, Sportlehrerin in der Realschule in Bad Kissingen, sicherlich immer wieder ihre Fühler aus, um leichtathletisch begabte Schülerinnen und Schüler zu entdecken. Theoretisch ist es sicherlich möglich, dass Vereine in die Schule kommen um „Sport nach eins“ zu unterrichten. Aber welcher berufstätige Übungsleiter soll das leisten können?
Wo sehen Sie Ansätze, damit Leichtathletik-Deutschland wieder im Medaillen-Spiegel bei Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen auftaucht?
Langfristig ist eine ganzheitliche Anstrengung von der Talentsichtung über die Basis bis hin zum absoluten Hochleistungssport nötig. Für den absoluten Spitzensport ist meiner Meinung nach vorrangig das niederländische Modell der Zentralisierung und der ganztägigen optimalen Betreuung anzustreben. Wer sich dafür entscheidet, sollte sich dann auch finanziell keine Sorgen mehr machen müssen. Aber auch das föderale System in Form von kleinen Trainingsgruppen und Einzeltraining sollte weiterhin möglich sein. Maximale Förderung von staatlicher Seite da allerdings erst im Erfolgsfall. Wir sollten uns hinterfragen, ob wir uns bei den wenigen finanziellen Mitteln noch 18 zumeist mittelmäßige Olympiastützpunkte in Deutschland leisten können und wollen. Weiterhin sollten wir versuchen, erfolgreiche ausländische Trainer für Disziplinen anzuwerben, bei denen wir derzeit nicht erfolgreich sind und auch internationale Trainingsgruppen zulassen.
Ein Problem ist sicher auch der Übergang vom Jugend- in den Aktivenbereich…
Mit Beginn des Studiums gehen uns zu viele Talente verloren. Bei den diesjährigen U20-Europameisterschaften waren wir mit 20 Medaillen die mit Abstand beste Nation. In der U23 waren es bei der EM nur noch acht Plaketten, die der deutsche Nachwuchs mit nach Hause brachte. Da wir das amerikanische College-Sport-System nicht an unseren Unis haben, müssen wir damit leben, dass es unsere Studenten auch in Zukunft schwer haben, um globale Medaillen zu kämpfen.