Wer den Namen Emilia Galotti hört, kann gar nicht anders, als den Namen Gotthold Ephraim Lessing automatische mitzudenken. Es gibt nur wenige Theaterstücke , die im Bewusstsein der Theaterfreunde so stark und gemeinsam verankert sind wie dieses bürgerliche Trauerspiel. Dabei ist das Werk im Grunde gar keine originäre Erfindung Lessings. Es basiert auf einem fiktiven Text des römischen Schriftstellers Livius über die junge Verginia, die sich den Nachstellungen des korrupten Decemvirs Appius Claudius nur durch den Tod entziehen kann. Immerhin ist der der Auslöser eines Volksaufstandes, an dessen Ende die Ausrufung der Römischen Republik steht.
Hochpolitisches Stück
Den zweiten Teil konnte Lessing natürlich nicht thematisieren, denn zur Zeit des Schreibens und der Uraufführung am 13. März 1772 im Herzoglichen Opernhaus in Braunschweig war er Hofbibliothekar der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel. Da hätte er Konsequenzen befürchten müssen. Aber auch so war Lessing ausgesprochen mutig. Denn auch wenn es auf den ersten Blick in "Emilia Galotti" um die Liebe geht, ist es ein hochpolitisches Stück geworden, das die Auflösung der feudalen Welt beschreibt, das die Spaltung und Zerrissenheit der in ihr Lebenden Menschen zeigt: Adel und aufgeklärtes Bürgertum geraten aneinander.
Kein Lametta, keine Kompromisse
Jetzt hat Ingo Pfeiffer das Stück in der Lauertalhalle, dem Maßbacher Ausweichquartier inszeniert, und er hat es in einer - fast möchte man sagen: sensationellen Weise an die Gegenwart herangeholt. Da wird kein historisierendes Lametta aufgehängt, da werden keine Kompromisse gesucht, weil es früher halt doch anders war als heute. Da wird nichts mit staubenden Allongeperücken vernebelt. Man merkt es ja schon an den Kostümen von Daniela Zepper und ihrem Team. Natürlich haben sie sich von historischen Vorlagen inspirieren lassen. Aber ihre Kreationen könnten in ihrer Nüchternheit auch heute in jeder besseren Boutique hängen. Und bei dem Bühnenbild von Robert Pflanz denk man nicht an ein italienisches Rokokoschloss, sondern an ein schwedisches Möbelhaus: große, verschiedenfarbige Kästen, die rasche und flexible Umbauten erlauben, die durch ihre Weichheit aber das Laufen erschweren. Der Boden unter den Füßen hat sich aufgeweicht.
Aber vor allem ist es natürlich die außerordentlich differenzierte, kleinstteilig erarbeitete Gestaltung der Rollen, ihre inneren und äußeren Konflikte, ihre Ratlosigkeit in einer Welt, die aufhört, die Ihre zu sein. Da ist Jens Eulenberger als triebgesteuerter, aber politisch absolut hilflose Prinz Hettore Gonzaga, der sich in seinem Residenzschloss - und später in seinem Lustschloss Dosala - möglichst abschottet vom wirklichen Leben, um seinen Liebesfantastereien freien Lauf zu lassen. Er ist kein Don Giovanni, der auf Eroberungszüge geht und seinen Diener Leporello vor allem dazu braucht, ihm die Gehörnten vom Leibe zu halten. Gonzaga braucht seinen Kammerdiener Marinelli, der ihm seine Liebschaften organisiert.
Eiskalter Marinelli
Er hat wohl mal etwas vom "ius primae noctis" (Recht der ersten Nacht) gehört, aber damit umgehen kann er überhaupt nicht. Sein Umgang mit der Regierungsrealität ist absolut launisch. Wie überfordert er ist, zeigt er ausgerechnet dank der Streichung einer Rolle: Gonzaga unterschreibt mit einem nassforschen Strich ein Todesurteil. Das ist ein Terrain, auf dem er sich noch zuhause fühlt. Der eingesparte Hofrat Camillo Rota hätte ihn gerade noch zum Unterschriftsverzicht gebracht.
So eiskalt und berechnend, wie Christoph Schulenberger den Marinelli spielt - nämlich ganz anders als erwartet - könnte das Drama auch "Marinelli" heißen. Denn er gibt nicht den schmierigen Hofrat, der sich dienernd und einschleimend durch die Geschichte schlängelt, sondern als einen, der genau weiß, dass ihm niemand etwas anhaben kann, der die Fäden in der Hand hält, für den nicht nur der Prinz eine Marionette ist - und der sich jeder Verantwortung entziehen kann - ob Mord oder Kuppelei oder anderes. Und der am Ende völlig ungerührt zu seiner nächsten Dienststelle weiterzieht.
Große Spannungen ziehen sich auch durch die Familie Galotti. Marc Marchand spielt einen Vater Odoardo, der seine strengen bürgerlichen Moralvorstellungen immer mehr in Gefahr sieht, der sich aber nicht traut, gegenüber dem Herzog dafür einzustehen, der auch die mörderische Wirklichkeit nicht an sich heranlassen will, für den der Tod der Tochter eine Lösung, aber keine Erlösung ist. Und es war gut gemacht, dass man am Ende nicht erkennen konnte, ob er oder Emilia selbst den tödlichen Stich ausgeführt hat. Die spielte Nina Niknafs als eine junge Frau, deren Selbstbewusstsein größer war, als ihr gut tat, die die Galanterien des Herzogs für harmlos hielt und nicht merkte, wie sie immer mehr an den Abgrund geriet. Auch ihre Mutter Claudia, gespielt von Jessica Latein , brauchte erheblich länger als ihr Mann, um die Gefahren der Situation zu erkennen.
Nähe zur Me too-Bewegung
Wie in einer Zeitmaschine in die Gegenwart geraten wirkte Anna Schindlbeck als Gräfin Orsina, die abgelegte Maitresse des Grafen . Sie entwickelter aus der Position der bewältigten Enttäuschung eine analytische Klarheit, die zwar schon immer im Text steckte, aber endlich einmal wachgespielt wurde. Da geriet man plötzlich in die Nähe der "Me too"-Bewegung, da konnte man verstehen, dass der Graf vor ihr Angst bekommen haben musste. Maitressen waren schließlich nicht zum Denken da. Und Alessandro Scheuerer als Emilias ermordeter Bräutigam Graff Appiani hatte sich bereit vom Fürsten emanzipiert. Dass er sich weigerte, einen Befehl zu verweigern, weil er die Hochzeit verhindert hätte, der dem Grafen nicht einmal seine Hochzeit angekündigt hatte, hätte ihm, hätte er länge gelebt, zumindest reichlich Ärger eingebracht.
Entstanden ist eine Inszenierung von einer Dichte und Klarheit, die den Zuschauer auch nach dem Schlussapplaus lange nicht loslässt. Wer kein Abonnement hat und sie trotzdem sehen will, muss sich beeilen: Das Stück wird insgesamt nur zwölfmal aufgeführt.