Ob Sommer oder Winter, immer freitags hat Sylke Jäger aus Poppenlauer einen Termin mit ihrer Tochter Victoria. Seit Jahren schon, der Termin lässt sich nicht verlegen, denn sonst fehlt Victoria etwas. Die Mutter und ihre fast 20 Jahre alte Tochter fahren in die Stadtgalerie nach Schweinfurt. Etwas gekauft hat Victoria dort noch nie, sie kann das nicht. Geld hat für sie keine Bedeutung, Mode interessiert sie nicht. Victoria ist Autistin. Sie hat eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die sich unter anderem im sozialen Umgang mit Mitmenschen, in der Kommunikation und in sich wiederholenden Verhaltensweisen äußert. Sie mag Menschen, wenn sie sie beobachten kann. Und das tut sie immer freitags in der Galerie. Dann stehen Sylke und Victoria – wenn Victoria will, auch stundenlang – an der Rolltreppe, die das Obergeschoss mit der darunterliegenden Glitzerwelt verbindet.
Das ist Victorias Glück. Sie ist schon auf der Fahrt dahin aufgeregt. Sie beugt sich zwischen Fahrer- und Beifahrersitz, schaut nach draußen, erkennt den Weg. Ihre Mama beginnt, das von ihr erfundene Stadtgalerie-Lied zu singen, sobald das Gebäude der Stadtgalerie zu sehen ist. Singen kann Victoria es nicht, weil sie nicht sprechen kann. Aber das Ritual gehört dazu. Wenn das Auto ins Parkhaus einbiegt, jauchzt sie vor Begeisterung. Sie mag Tunnel, liebt das Spiel mit Licht und Dunkelheit.
Der Van ist ihr Spielzimmer
Victoria ist eine große junge Frau. Das Auto – ein geräumiger Van – ist ihr Spielzimmer, Esszimmer, Wickeltisch, Ruheraum, wenn Mutter und Tochter unterwegs sind. Der Behindertenparkplatz auf dem Dach des Parkhauses liegt keine drei Meter vom Eingang entfernt. Das ist gut so, denn Victoria trägt im Winter mehrere Paar Socken übereinander, denn Schuhe möchte sie nicht tragen. Alles, was sie einengt, empfindet die Autistin als schlimm, vielleicht als schmerzhaft. Genau weiß man das nicht, Victoria kann es nicht beschreiben. In jedem Fall ist es für sie unangenehm. So behelfen sich Victorias Eltern eben im Winter mit vielen Socken übereinander und bei Nässe mit Matten, die sie auf dem Boden auslegen.
Duschen in Bad Königshofen
Und weil Victoria das Badezimmer zuhause nicht betritt und die Eltern sie deshalb zuhause nicht duschen können, fahren sie schon jahrelang mit der Tochter nach Bad Königshofen in die Therme. Das kennt sie, das ist sie gewohnt, das gibt ihr Sicherheit. Dank ihrer Eltern, ihrer Großeltern und dank einer unglaublich großen kleinen Schwester, der zehnjährigen Aurelia, geht es Victoria sehr gut. Die Mutter hat kaum das Auto abgestellt, da krabbelt Victoria schon aus ihrem Wagen. Sie kennt den Weg, läuft gemächlich auf Socken ins Gebäude, strahlt, wenn der Aufzug kommt. Denn darin hängt ein riesiger Spiegel.
Die 19-Jährige blickt sich an, der Mund ist offen, die Augen weit, sie mustert ihr Gesicht, betrachtet ihren Körper. „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“, fragt die Mutter in ihr Ohr – und Victoria strahlt, sie bemerkt nicht das Paar im Aufzug, das offensichtlich von dieser Situation berührt und verunsichert ist und in dem Moment nicht weiß, wohin mit sich.
Auf dem Weg zu ihrem Platz ist die 19-Jährige auf Socken kaum zu halten. Ihr Platz, das ist auf Höhe eines Elektromarktes und des Gastronomiebereichs, genau an dem Punkt, an dem die einen die Rolltreppe hoch-, die anderen Menschen die Rolltreppe runterfahren.
Zauber von klappernden Absätzen
Victoria ist gebannt, hochkonzentriert, sie blickt den Menschen ins Gesicht und auf ihre Schuhe, denn sie liebt das Geklapper von Absätzen auf der silbernen Gitterfläche vor der Rolltreppe. Ihre Hände sind ständig in Bewegung. Wenn sie sie besonders stark reibt, dann hat sie einen besonders intensiv klappernden Absatz gehört.
Die Menschen auf der Rolltreppe sind schwer im Weihnachtsstress. Sie versuchen, ihre kleinen Kinder sicher die Rolltreppe hinunter zu bekommen, sie schleppen schwere Tüten oder Geschenke. Und dann steht da Victoria, präsent, unübersehbar. Die Menschen schauen neugierig hin und teils unsicher zu Boden; sie beobachten das große, sich wiegende Mädchen entweder unverhohlen oder voller Wärme – kalt lässt das große Mädchen, das in seiner eigenen Welt wohnt, niemanden.
Jeden Freitag Hamburger
Ginge es nach Victoria, könnte es Stunden so gehen. Aber Victorias Freitagsroutine geht noch weiter. Sie muss einen Bremer, die Fischbulette von der Nordsee, essen. Und einen Hamburger bei McDonald's. Jeden Freitag. Und spätestens dann zeigt sich, dass Victoria von den Menschen in der Stadtgalerie als Inventar, als geliebter, besonderer Gast gesehen wird.
Die Nordsee-Bedienung und auch die Angestellten von McDonald's wissen schon, dass Victoria jetzt Bremer und Hamburger möchte – bitteschön! Sie sind sehr freundlich, sie beeilen sich, weil sie wissen, dass Victoria es eilig hat. Denn Victorias Vergnügen – die Absätze, das Klappern, die Rolltreppe – geht ja weiter.
Dann kommt die Reinigungsfrau der Galerie mit ihrem großen Putzwagen vorbei. „Hallo Victoria, schön, dass du da bist“, ein kurzes Streicheln über Victorias Arme, Victoria lacht, sie freut sich. Und da sind noch die beiden Frauen, vermutlich Angestellte der Stadtgalerie, die sich beeilen, Victoria noch schnell ein Täfelchen Schokolade zu bringen.
Nach gut einer Stunde flüstert Sylke Jäger ihrer Tochter ins Ohr, dass es Zeit ist zu gehen und läuft mit ihr untergehakt zum Fahrstuhl. „Wer ist die Schönste im ganzen Land?“ – und Victoria freut sich und strahlt sie an. Auf dem Boden im Auto spielt Victoria mit ihrem blauen Plastikeimer und ihrer Kinderklapper. Beide Spielzeuge hat sie seit ihrer Geburt. Sie lässt sich mit Bremer und Hamburger füttern, es ist ein gelungener Freitag für sie.
Und auch für alle anderen, die Victoria gestreichelt und begrüßt haben. Diese junge, an Autismus schwer erkrankte Frau hat durch ihr Erscheinen etwas bewirkt.
All diese Menschen – die Verkäufer, die Angestellten, die Reinemachefrau, andere Bekannte – haben gleich auf Victoria reagiert: Ihre Gesichter wurden mild, sie lächelten, bei manchen funkelten die Augen.
Und sobald Victoria sie anlächelte, und vielleicht auch – was selten ist und Vertrauen voraussetzt – mit einem singenden Laut, mit einem festen Griff an den Arm reagierte, waren diese Menschen sichtlich berührt von Victoria und ihrem Glück, in der Stadtgalerie vielen Schuhen beim Klappern zuzuhören.
Mehr braucht sie freitags nicht.
Das ist nicht korrekt, Frau Will. Autismus ist keine Krankheit, sondern - wie Sie Anfangs auch schreiben - eine Entwicklungsstörung, die allerdings in sehr unterschiedlichen Ausprägungen auftritt (man spricht vom Autismus-Spektrum). Ich hätte mir gewünscht, Sie hätten das richtig recherchiert und nicht so einseitig dargestellt.
Viele Autisten (Asperger, hochfunktional) haben keine intellektuellen Defizite, sondern sind in einigen Bereichen den Nicht-Autisten durch ihre kognitiven Fähigkeiten sogar voraus. Dennoch werden sie als „krank“ angesehen, wenn sie sich als Autist "outen", oder scheitern daran, dass ihre Umgebung ihre Besonderheiten nicht akzeptiert. Viele qualifizierte und in ihrem Fachbereich sehr fähige Autisten sind deshalb z.B. nicht im ersten Arbeitsmarkt integriert, obwohl sie nachweislich mit ihrer Herangehensweise an Problemstellungen Projekte und Teams hervorragend ergänzen.