
1000 Tage ist der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine nun alt. Moskau beschuldigt den Westen der Eskalation, da die USA laut Medienberichten weitreichendere US-Waffen für die Ukraine freigegeben haben soll. Aus Moskaus Propagandastuben sind Schlagworte wie "Dritter Weltkrieg" zu hören, der ukrainische Außenminister Andrij Sybiha spricht von einem Game-Changer durch den Einsatz der ATACMS*. In Bad Kissingen beobachtet Herbert Danzer die Situation genau. Der Oberst a.D. (77) ist Russlandexperte**, war lange Zeit Heeresattaché in Moskau. Er sagt: "Der Einsatz der Waffe ist kein Wendepunkt, die Ukraine wird diesen Krieg leider nicht gewinnen können."
Herr Danzer, was stimmt Ihrer Meinung nach denn: Ist der Einsatz der ATACMS nun eine Eskalation oder ein Auftakt zu einem größeren Krieg?
Nein. Die ballistische Rakete fliegt bis zu 300 Kilometer weit, und sie kann auch abgeschossen werden, sie ist nicht lenkbar. Ihr Einsatz ist wohl auf den Raum Kursk beschränkt. Die Waffe ermöglicht der Ukraine nur, besser den eroberten Raum zu halten, das Militär hat nun mehr Möglichkeiten in der konventionellen Kriegsführung dort. Derartige Waffen werden schon längst von der Ukraine eingesetzt, allerdings nur mit einer Reichweite von 150 Kilometern. Joe Biden , der scheidende US-Präsident, will die Ukraine bis zum 20. Januar 2025 soweit wie möglich finanziell und mit Waffen unterstützen – da sind die ATACMS ein Mittel.
Am 20. Januar wird Donald Trump zum nächsten US-Präsidenten ernannt. Die ATACMS sind also nicht kriegsentscheidend?
Nein. Das kann eine einzelne konventionelle Waffe nicht. Aber die Waffe stärkt die Ukraine. Das kommt übrigens nicht überraschend für den russischen Präsidenten Putin , auch wenn die Propaganda jetzt etwas anderes sagt. Es wird seit Sommer diskutiert, den Ukrainern diese Waffe zur Verfügung zu stellen. Moskau konnte sich auf den Einsatz einstellen.
Russland beschwor in den vergangenen Stunden eine Eskalationsgefahr in Richtung Dritter Weltkrieg – gehen Sie damit konform?
Überhaupt nicht. Bisher eskaliert nur Russland. Und auch wenn jetzt über eine atomare Eskalation gesprochen wird – auch die sehe ich nicht. Dafür fehlen wesentliche Kriterien. General Kartapolow, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses der Duma , dementierte dies bereits. ATACMS sind taktische Kurzstreckenraketen, die räumlich begrenzt eingesetzt werden können. Sie werden am Ausgang des Krieges nicht viel ändern.

Wagen Sie eine Prognose hinsichtlich des Ausgangs des Krieges?
Ich habe keine Glaskugel, aber ich gehe davon aus, dass Trump alles tun wird, um einen Waffenstillstand zu erreichen und den Krieg einzufrieren. Das käme einem Pyrrhus-Sieg für Wladimir Putin gleich – er hätte sein Kriegsziel nicht erreicht und ich schätze, dass mindestens 400.000 Russen dafür sterben mussten. Putin hat derzeit kein Interesse, den Krieg zu beenden. Er wird ihn bis zum 20. Januar noch ausweiten, um so viel Raum wie möglich in der Ukraine zu erobern. Was dann bliebe: eine geteilte Ukraine und viele ungelöste Fragen.
Welche Fragen sind das?
Wer der Ukraine zum Beispiel Sicherheitsgarantien gibt, welche Truppen den Waffenstillstand überwachen, wie es mit Reparationszahlungen aussieht, ob die russischen Kriegsverbrechen gesühnt werden, was mit den westlichen Sanktionen passiert und wie es mit den Beziehungen der westlichen Welt zu Russland in der Zukunft aussehen wird.
Ich befürchte, dass die Ukraine ihre volle Souveränität und etwa 30 Prozent ihres Staatsgebiets verlieren wird. Russlands besonderes Interesse gilt der Schwarzmeerküste bis Odessa und der Landbrücke nach Moldau. Die Ukraine wird den Krieg auch wegen unzureichender westlicher Unterstützung verlieren. Es wird immer weniger geliefert und bestimmte Waffensysteme werden zurückgehalten.
Sie meinen das "Nein" von Bundeskanzler Olaf Scholz zur Lieferung von Taurus Marschflugkörpern?
Die Freigabe von Taurus ist tatsächlich eine schwierige Frage. Es ist ein völlig anderes Kriegsmittel, Taurus ist eine bunkerbrechende Waffe mit größerer Reichweite und mehr Sprengstoff. Von daher verstehe ich, dass man diese Waffe zurückhält. Allerdings hätte man den Einsatz früher in Aussicht stellen können, um Russlands barbarischen Krieg gegen die ukrainische Bevölkerung zu beeinflussen.
Wie beurteilen Sie das Telefonat, das Scholz jüngst mit Putin geführt hat?
Angeblich hat es zuvor eine Abstimmung mit den Alliierten gegeben, aber hinterher hörte man großes Unverständnis über diese Aktion aus europäischen Hauptstädten. Auch der deutsche Botschafter in Moskau hält gegenwärtige Friedensgespräche für verfrüht. Offensichtlich redet Berlin nicht mit seiner Außenvertretung in Moskau. Ich glaube, dass Scholz die Gelegenheit nutzt, sich wieder als Friedenskanzler darzustellen – wir sind ja schon mitten im Wahlkampf. Dieser deutsche Sonderweg tut unserem Zusammenhalt in Europa nicht gut.
Das Telefonat wird ja auch von der russischen Propaganda ausgeschlachtet.
Ja. Deutschland hat für Moskau nicht mehr die Bedeutung wie früher, unserer Politiker und Politikerinnen werden als Witzfiguren dargestellt. Und wir sind ein sicherheitspolitischer Zwerg, gerade in der jetzigen Zeit. Weshalb sich Scholz so exponiert, ist wohl innenpolitisch motiviert.
Gehen wir gedanklich zurück an die Front. Dort sollen nun laut Nato 10.000 nordkoreanische Soldaten samt schwerer Artillerie zur Unterstützung Russlands angeheuert worden sein.
Und genau deshalb gibt Biden nun die ATACMS frei, damit die Ukraine sich besser behaupten kann. Er will eine weitere Kriegsbeteiligung Nordkoreas eindämmen, er will, dass Nordkorea einen Preis für die Teilnahme am völkerrechtswidrigen Krieg bezahlt und daraufhin seine Beteiligung einstellt. Die USA beweisen ihre Führungsrolle auch in der Übergangsphase der Präsidentschaften.
Wie könnte Nordkorea reagieren, wenn deren Soldaten getötet werden?
Es werden Propaganda-Aktionen und Schuldzuweisungen kommen – und eine gewisse Gefahr, dass Nordkorea Aktionen gegen amerikanische Soldaten in Südkorea vornehmen wird. Das wäre dann eine Eskalation, aber ich glaube, dass die USA ihre Truppen darauf vorbereitet hat.
Was glauben Sie, wird Russland tun?
Putin wird seine hybride Kriegsführung noch ausweiten und weiterhin mit konventionellen Waffen die Ukraine zerstören. Wie lange Russland das durchhält, hängt von der Unterstützung des Irans, Chinas und Nordkoreas ab.
Russland behauptet, die USA würden mit der Freigabe der ATACMS zu Kriegsteilnehmern.
Das entbehrt jeder Rechtsgrundlage. Ich möchte die Leser und Leserinnern erinnern: Russland führt seit 2014 mit der Annexion der Krim einen Krieg gegen die Ukraine, die sich nach Artikel 51 der Charta der vereinten Nationen wehrt. Die größte Atommacht der Welt und Vetomacht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen führt seit 1000 Tagen einen völkerrechtlich verbotenen Angriffskrieg gegen seinen Nachbarn, eine ungeheuerliche Tatsache, die es in der neueren Geschichte noch nicht gegeben hat.
Alle Unterstützungen für die Ukraine sind durch die Charta der Vereinten Nationen abgesichert, es ist eine politische Entscheidung der jeweiligen Staaten. Deshalb werden diese Nationen nicht zu Kriegsteilnehmern. Das muss klar sein, egal, wie laut die russische Propagandatrommel gerade geschlagen wird.
Die Völkergemeinschaft hat in ihrer Generalversammlung knapp einen Monat nach der Aggression im März 2022 mit überwältigender Mehrheit - 144 von 193 Staaten, das sind 75 Prozent der Stimmen - einen sofortigen Frieden und Abzug aller russischen Streitkräfte aus der Ukraine gefordert. Die für den Weltfrieden mitverantwortliche Vetomacht ignoriert dieses Votum bis heute.
* ATACMS steht für Army Tactical Missile System
**Oberst a.D. Herbert Danzer lebt in Bad Kissingen. Er beschäftigt sich seit gut 30 Jahren mit Sicherheitspolitik, er war davon zwölf Jahre international tätig und arbeitete mit dem russischen Militär zusammen. Er war der erste Offizier der Bundeswehr (und noch dazu aus einem Nato-Land), der an der höchsten Bildungsstätte der russischen Streitkräfte in Moskau studierte und dort mit dem Diplom "Sicherheitspolitik des Staats" abschloss.
Daneben war er im Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr für Auslandsinspektionen über konventionelle Waffen in Osteuropa zuständig. 2005 war er Leiter der Unterabteilung Russland-Ukraine im Internationalen Militärstab der Nato in Brüssel. Nach seiner Pensionierung 2007 wirkte er bis 2013 mit an den Deutsch-Russischen Dialogen des Verteidigungsministeriums, organisiert durch die Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Heute hält er gelegentlich Vorträge im Heiligenhof.