Am 1. Oktober 1997 kam Jörg Wöltche als Kantor an die Bad Kissinger Erlöserkirche. Im Rahmen des Erntedankgottesdienstes konnte die Gemeinde auch sein 25-jähriges Dienstjubiläum feiern - ein guter Anlass, mit ihm, dem von der evangelischen Landeskirche in Bayern der Ehrentitel des Kirchenmusikdirektors verliehen wurde, eine kleine Rückschau zu halten.
Herr Wöltche, wann, wie und warum sind Sie das geworden, was Sie heute sind? Wie hat sich Ihre Biographie entwickelt?
Geboren wurde ich 1963 in Waldalgesheim bei Bingen, bin durch häufige Umzüge meiner Eltern schon viel rumgekommen und dann als Student auch. Meine Gymnasialzeit habe ich in Darmstadt verbracht, habe vor 40 Jahren Abitur gemacht, habe zunächst Theologie in Frankfurt studiert, später in Heidelberg; und dann hat mich die Kirchenmusik doch wieder gepackt und ich habe die Aufnahmeprüfung an der Hochschule in Heidelberg gemacht und dann Theologie und Kirchenmusik in Heidelberg studiert.
Haben Sie als Kind ein Instrument gespielt?
Ich habe mit viereinhalb Jahren ersten Klavierunterricht bekommen. Durch die vielen Umzüge und die vielen Klavierlehrer ist aber eine Klavierkarriere nie in Frage gekommen. Was ich der Akademie für Tonkunst in Darmstadt verdanke, ist: Ich hatte da zusätzlich zum Klavierunterricht Tonsatzunterricht und Gehörbildung. Der Gehörbildungslehrer hat schnell gemerkt, das ich das absolute Gehör habe, was ich nicht wusste. Mit sieben Jahren kam ich in den Kinderchor der größten Darmstädter Kirchengemeinde. Und mit neun Jahren habe ich die h-moll-Messe gesungen. Ich kann die Altstimme heute noch auswendig.
Und wie lief es mit der Orgel?
Ich hatte einen uralten Orgellehrer , der mir auch Gesangsunterricht gab - und da kam ich mit 13 aus heiterem Himmel zur Orgel. Ich kam relativ schnell zur Orgelprüfung, hatte sofort eine Organistenstelle im Nachbardorf, hatte in der Schulzeit (10./11. Klasse) parallel in Frankfurt jeden zweiten Samstag Chorleitungsunterricht, war mit 17 ausgebildeter C-Chorleiter und leitete einen Kirchenchor .
Sie kamen vor 25 Jahren aus Garding an der Nordsee nach Bad Kissingen .
Garding war meine erste hauptamtliche Stelle 1991 bis 1997. Da hatte ich als Berufsanfänger das Glück, einen Vorgesetzten zu haben, einen Probst, der selbst gut Orgel spielt und Kirchenmusiker ist und mich geprägt hat als Kantor, der Gemeindearbeit von Grund auf macht.
Wie kam dann Bad Kissingen ins Spiel?
Die Stelle in Garding war damals schon nicht mehr sicher. Die Nordkirche musste sparen. Deshalb musste ich weg, wenn ich eine sichere Stelle haben wollte. Bad Kissingen bot in seiner Ausschreibung eine Kombination aus Orchester und Kantorei. Das hat mich gereizt. 34 Mitbewerber sprechen für die Qualität der Ausschreibung.
Wie war der Empfang in der Gemeinde?
Insgesamt sehr herzlich. Das Orchester merkte schnell, dass ich ihm gewisse Fähigkeiten vermitteln konnte, weil ich das große Glück hatte, im Studium schon mit Orchestern arbeiten zu können. In der Kantorei war es schwieriger. In meinem Dienstauftrag stand, zwei Oratorien und mehrere Kantaten pro Jahr aufzuführen. Es stellte sich schnell heraus, dass die Kantorei schon aus Gründen einer ungleichen Besetzung dem nicht gewachsen war. Ich habe das 1998 und 1999 probiert mit zwei Oratorien pro Jahr. Aber es ging nicht mit einer Chorprobe in der Woche und dem Schulungsgrad der Kantorei.
Wie hat sich die Arbeit mit Chor und Orchester entwickelt?
Also, die klassische Chorarbeit hat unglaublich viel Freude gemacht trotz dieser Schwierigkeiten. Aber es gab auch in Bad Kissingen schon zwei große Chöre, die im gleichen Genre arbeiteten, die Katholische Kantorei und die Kissinger Sängervereinigung. Da haben wir uns eine Nische gesucht. Mit Gospel hatte ich schon einige Erfahrung. 1998 haben wir aus Jux und Tollerei gesagt: Wir probieren mal ein Jahr, eine andere Generation von Menschen zu erreichen, die auch einen anderen Musikstil für sich verinnerlicht haben, die sagen: In einen klassischen Chor gehen wir nicht, würden aber singen, wenn es ein Angebot gäbe. Aus dem einen Jahr sind 24 geworden. Das sind die KissSingers.
Es ist aber auch auf dem Kinderchorsektor Neues entstanden.
Eine Kirchengemeinde ohne Kinderchor, fand ich, geht nicht. Ich bin 2001 zum Kirchenvorstand gegangen und habe gesagt: "Wir müssen etwas machen mit den Kindern. Die Klassische Kantorei wird sterben - das ist absehbar (2008 ist es auch passiert); und klassische Kinderchorarbeit wird nicht funktionieren, weil es hier kein musisches Gymnasium gibt und ein viel zu kleines Bildungsbürgertum, in dem die Kinder musisch gefördert werden." So begann eine Zwei-Gruppen-Kinderchorarbeit. Die Kleinen - ab dreieinhalb Jahre - führen wir über einen popularmusikalischen Zweig an die neuen geistlichen Lieder. Und die Größeren über die Musicalarbeit in Richtung Gospel. 2002 gab es ein erstes Konzert, "Lieder für den Frieden". 2013 entstand "PraiSing". Dann gab es auch noch die Gospel-Sparrows. Zeitweise hatten wir fünf Chorgruppen.
Und wie läuft's beim Kammerorchester?
Das Kammerorchester hat das Grundproblem, das alle musikalischen Gruppen haben, die mit sich selbst älter werden. Die Nachwuchsgewinnung auf dem Sektor Streichinstrumente ist extrem schwer. Um Geige spielen zu lernen, braucht man einfach fünf, sechs Jahre Geduld und Eltern, die das Üben ertragen. Es steht zu befürchten, dass irgendwann auch die Tage des Kammerorchesters gezählt sein werden. Ich hoffe, dass das nicht eintritt, dass sich immer wieder junge Menschen für Streichinstrumente begeistern.
Was waren Höhepunkte?
Ein Höhepunkt war die erste Johannespassion 1998, die das Kammerorchester komplett eigenverantwortlich im Streicherbereich gespielt hat - mit der Kantorei. Ein Höhepunkt war der Totentanz von Hugo Distler in einer szenischen Aufführung. Das Kammerorchester hat Beethovens 1. Sinfonie und Schuberts 5. Sinfonie gespielt. Oder das "Chaosprojekt Weihnachtsoratorium ", zu dem Chorsänger bundesweit über das Internet eingeladen wurden. Bedingung: Sie mussten ihren Part draufhaben, denn es gab nur eine Generalprobe. Im Gospelbereich jagt ein Highlight das andere: die großen Open-Airs, oder jetzt PraiSing im Regentenbau. Kantatengottesdienste sind jedes Jahr ein Highlight. Die Chöre reisten nach Ungarn, Frankreich, Italien, Österreich, an die Nordsee. Das Kammerorchester war 2005 mit in Vernon, es war bei der Landesgartenschau in Bamberg und beim Orchesterwettbewerb beim Bayerischen Rundfunk in München (2. Platz).
Was sollte noch gesagt werden?
Ich bin dankbar, dass nach dem schweren Arbeitsunfall 2019 kurz vor Weihnachten die linke Hand wieder so gut funktioniert, auch dank der ärztlichen Künste der Handchirurgie in Bad Neustadt, dass ich wieder 90 Prozent der vorhandenen Literatur spielen kann.
Das Gespräch führte Thomas Ahnert.