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Maßbach
Nichts trügt so wie Erinnerung
Im Intimen Theater hatte Michael Cooneys "Mordsgedächtnis" Premiere.
Ein Kampf in den Tiefen der Un- und Unterbewussten: Johanna Maria Seitz als Caroline Walker, die nicjht weiß, ob sie ihren Mann wirklich umgebracht hat, und Georg Schmeichen als Polizeipsychologe Dr. Mark Ellis.  Foto: Sebastian Worch       -  Ein Kampf in den Tiefen der Un- und Unterbewussten: Johanna Maria Seitz als Caroline Walker, die nicjht weiß, ob sie ihren Mann wirklich umgebracht hat, und Georg Schmeichen als Polizeipsychologe Dr. Mark Ellis.  Foto: Sebastian Worch
| Ein Kampf in den Tiefen der Un- und Unterbewussten: Johanna Maria Seitz als Caroline Walker, die nicjht weiß, ob sie ihren Mann wirklich umgebracht hat, und Georg Schmeichen als Polizeipsychologe Dr. Mark Ellis.
Thomas Ahnert
 |  aktualisiert: 19.08.2022 21:10 Uhr
Mit Michael Cooneys "Mordsgedächtnis" haben die Maßbacher die Winterspielzeit im Intimen Theater eröffnet, und das ist ein echtes Ausrufezeichen! Man mache sich als Zuschauer keine falschen Vorstellungen über das Erwartbare. Es ist keine Kriminalkomödie, mit denen sich Cooney auch einen Namen gemacht hat - kann es auch gar nicht sein. Denn für eine Kriminalkomödie braucht man mindestens vier Personen: Leiche, Mörder, Detective Inspector und den leicht überforderten Sergeant.
Nein, "Mordsgedächtnis" ("Murder in Mind") ist alles andere als eine Komödie. Es ist ein Drei-Personen-Stück, das unerbittlich in die Tiefe geht, ein ziemlich heftiger Psychothriller, der in Bereiche vordringt, in denen die Realität der Bühne nur noch einen untergeordneten Platz hat. Die Geschichte beginnt ja eigentlich recht einfach: Die junge Caroline Walker (Johanna Maria Seitz) ist angeklagt, ihren Ehemann Peter Walker (Nilz Bessel), mit dem sie zwei Jahre verheiratet war, umgebracht zu haben.
Die Indizien scheinen eindeutig zu sein, und Caroline würde sich mit dem Vorwurf und der Schuld wohl auch abfinden, wenn da nicht eines wäre: Sie kann sich an die Vorgänge, die zu dem Mord führten, und der Tat selber überhaupt nicht mehr erinnern. Sie kann nicht sagen: "Ja, ich war es", aber eben auch nicht: "Nein, ich war es nicht." Deshalb zieht sie den Polizeipsychologen Dr. Mark Ellis (Georg Schmiechen) zu Rate, der sie mittels Hypnose in die Vergangenheit und insbesondere in die Tatzeit zurückversetzen soll.


Der Zuschauer wird Weggefährte

Mehr an Information verbietet sich, weil "Mordsgedächtnis" ein hervorragend gebautes Stück ist, das zwar in der Realität beginnt, aber sehr schnell in Bereiche des Un- und Unterbewussten gerät und Entwicklungen nimmt, die der Zuschauer nicht vorausahnen kann. Er muss sich darauf einlassen, selbst zum Weggefährten werden. Da kann er nicht der wissende Begleiter sein.
Man muss aber auch feststellen, dass die Spannung deshalb durchgehend so hoch ist, weil das Stück sensationell gut inszeniert und gespielt ist, weil Sandra Lava auf eine unerbittliche Konzentration Wert gelegt hat, die auch den Zuschauer erfasst. Natürlich ist der Beginn noch erwartbar, als sich Psychologe und Patientin zum ersten Mal begegnen. Da gibt es Geplänkel und Irritiationen, da geht's um Duftmarken. Da will Caroline Walker klar machen, dass Mark Ellis bei ihr kein leichtes Spiel haben wird. Und der will ihr bedeuten, dass ihn das nicht weiter beeindruckt.
Aus diesem Eingangskonflikt kommt Sandra Lava schnell zur Sache, entwickelt eine Spannung, die sich immer mehr konzentriert, die keinerlei Leerlauf für die Schauspieler, keinerlei Atempause für den Zuschauer lässt, die das Nachdenken immer mehr fokussiert auf die Fragen, was Erinnerung eigentlich ist, was sie überhaupt wert ist, wie weit verlässlich, wie weit von innen und außen manipulierbar. Es wird ein bitterböses Spiel der narrenden Erinnerung, in dessen Strudel auch der Zuschauer gerät. Dazu kommt, dass das Bühnenbild von Robert Pflanz in seiner raffinierten Veränderbarkeit auch dem Zuschauer nicht das Gefühl lässt, einmal entkommen zu können, weil sich auch im Bild die Bereiche der Realität und der Trance nie wirklich trennen lassen. Man kommt nie raus in die Eindeutigkeit.


Kompromissloses Rollenspiel

Natürlich gibt es eine Pause: die Pause. Und die brauchen auch alle Beteiligten. Von der Anlage her könnte man das Stück auch durchspielen, aber nicht, wenn man es so spielt wie das Trio im Intimen Theater. Denn die drei begeben sich absolut kompromisslos in ihre Rollen, gehen wirklich bis an die Grenzen der Darstellbarkeit. Vor allem Johanna Maria Seitz spielt mit äußerster Expressivität. Sie fürchtet die Hypnose, aber sie weiß, dass sie sie braucht. Sie kämpft um ihre Identität, und als siei n die Realität zurückfindet, weiß sie, dass sie abhängig geworden ist. Sie spielt die Trance nicht, sondern sie zeigt sie, hat jede Distanz aufgegeben. Und wenn es nicht so banal wäre, würde man fragen, ob sie nicht tatsächlich hypnotisiert ist.


Beklemmender Distanzverlust

Seine Distanz zu seinem Tun - und auch das ist ungemein plausibel gespielt - verliert auch Georg Schmiechen, allerdings auf einer anderen Ebene. Er ist am Anfang der Macher, der Kontrollierte, die die Fäden in der Hand hält. Aber sie drohen ihm auf seinem Weg zum beabsichtigten Ergebnis immer wieder zu entgleiten. Und so wie der Psychiater allmählich seine Contenance verliert, verwandelt ihn Schmiechen in kleinen Schritten vom Dr. Jekyll zum Mister Hyde, wird er für seine Patientin zur Angsterfahrung.
Nilz Bessel hat es relativ am einfachsten. Denn als die Sitzung beginnt , ist er schon tot. Aber er muss in kleinen Rückblenden immer wieder zeigen, wie sein Verhältnis zu Caroline war und die Beurteilung in der Schwebe halten: War er der Kotzbrocken, der Märchenprinz, die Liebe auf den ersten Blick. Und so, wie Bessel da differenziert, ist eine Festlegung nicht möglich. Plausibel sind alle Erinnerungsmodelle, an die Caroline sich zu erinnern glaubt. Oder ist es nur Dr. Ellis, der sie dahin steuert? Weil es ihm letztlich gar nicht um die Frage geht, ob Caroline ihren Mann ermordet hat? Am Ende bleibt ein seelisches Trümmerfeld. Der Rest ist Schweigen.
Und das wirklich. Selten hat man das Maßbacher Publikum so atemlos still erlebt. Und selten hat es hinterher atemlos beeindruckt so lange applaudiert.
 
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