Eigentlich ist nur schwer zu verstehen, warum Max Frischs "Lehrstück ohne Lehre", wie er sein neben "Andorra" erfolgreichstes Stück "Herr Biedermann und die Brandstifter" nennt, nicht nur im Theater, sondern auch zumindest bei den Deutschlehrern im Unterricht über so lange Zeit so beliebt war. Denn es widersetzt sich jeglicher schlüssigen Interpretation, changiert zwischen Burleske, Farce, Parodie einer griechischen Tragödie und sozialkritischem Lehrstück.
Brandgefährliche Sache
Nach dem Ende der Nazi-Diktatur und während des Erstarkens des kommunistischen Machtbereichs im Osten Europas war es gut geeignet, um zu zeigen, wie sich eine brandgefährliche Sache in eine weitgehend harmlose Gesellschaft schleicht, in ein wohlerzogenes, auch im Umgang mit den unteren Schichten sich wohlwollend gebendes Bürgertum , das sich immer auf sein Recht beruft, einfach nicht hingeschaut, nicht nachgedacht, nichts getan zu haben angesichts der offensichtlichen Bedrohungen durch die Brandstifter allenthalben. Dass der gute Schweizer Unternehmer Biedermann allerdings auch als schuldig im Sinne der europäischen Tragödie zu sehen ist, zeigt Frisch, indem er ihm einen Chor im Stile und teilweise Wortlaut von Sophokles " "Antigone" gegenüberstellt, einen Geist wie den von Macbeth ermordeten Banquo, dem Rächer Tod, der das Gastmahl des "Jedermann" sprengt, oder der wie die "Sorge" in Goethes "Faust II" schwarz verkleideten Witwe Knechtling.
Zur ersten deutschen Aufführung in Frankfurt 1958 schrieb Frisch, der sich von Aufführungen in der Schweiz unverstanden fühlte, ein Nachspiel, das zeigte, dass er nicht, wie dort allgemein interpretiert, nur vor dem schleichenden Einfluss des Kommunismus warnen wollte, sondern vielmehr, wie Hellmuth Karasek meinte, "eine Parabel, in der die Machtergreifung Hitlers treffend eingefangen ist," schreiben wollte. Trotz oder gerade wegen der nicht so klaren Zielrichtung wurde das Stück zum Bühnen- und Unterrichtshit, bis man sich am Ende des 20. Jahrhunderts sicher wähnte vor Kommunismus und Nationalismus.
Das Theater Schloss Maßbach besann sich 2019 wieder darauf, dass das Gefühl des heimlich Infiltriert-Werdens, der Machtübernahme durch rhetorisch geschickte Brandstifter auch in unseren Tagen durchaus präsent ist, und dass gewiefte und skrupellose Geschäftsleute wie jener Gottlieb Biedermann sich auch heute wieder im Verharmlosen, Wegsehen üben.
Wie ein Vexierbild
Und so holten Regisseur Ingo Pfeiffer und sein Team die alte Geschichte aus den Zeiten des Kalten Krieges und selbstgerechter Schweizerischer Geschäftstüchtigkeit wieder auf die Bühne, die für ihn und seinen Bühnenbildner Robert Pflanz ein Gewirr aus E. C. Escherschen Treppenansätzen und Stockwerken ist, das wie ein Vexierbild immer wieder seine Gestalt verändert.
hDer warnende Chor der Feuerwehrleute (Jörn Hagen, Joris Immenhauser, Vera Rumpel, Sebastian Worch) und ihres Hauptmanns (Ingo Pfeiffer) erscheint auf Videobildschirmen, eine Fernsehmoderatorin ( Anne Maar ) interviewt Biedermann zu dem, was er angerichtet hat: die Zerstörung der ganzen Stadt, einer ganzen Gesellschaft durch unverfroren agierende Brandstifter, aber auch den Tod seines ehemaligen Mitarbeiters Knechtling, den er entlassen hat, als er für seine Erfindung seinen Teil einforderte von Biedermanns Reichtum.
Spätestens hier hat uns Frischs Stück wieder eingeholt: Volksverhetzung, Verzweiflung durch Arbeitslosigkeit angesichts der Pokerfaces der Mächtigen sind durchaus nicht untergegangen nach Anbruch eines neuen Jahrtausends.
Und so konnten die fünf Schauspieler in ihrem E.C. Escher-Labyrinth verwirrender Treppen und Ebenen und angesichts der Warnungen aus den Monitoren und kitschig-volkstümelnden Beschwichtigungen heiler Bilderwelten (mit röhrendem Hirsch) im Wohnzimmer unter der genauen und einfallsreichen Personenregie Pfeiffers durchaus zeigen, dass dieses Stück aus anderen Zeiten durchaus noch uns meinen kann: Marc Marchand verband als Biedermann mit selbstbewusster Haltung und (passend Schweizerisch gefärbter) Stimme den skrupellosen Geschäftsmann, der das nahtlos mit dem feige-konzilianten Brandstifter-Versteher verbindet. Susanne Pfeiffer als vertrauensselige, ehegattenhörige, stilbewusste Bürgerin, Benjamin Jorns als aalglatter Vertreter- (oder Politiker-?) Typ mit analytischem Durchblick und arroganter Offenheit im Umgang mit seinen Opfern.
Alexander Bräutigam als Brandstifter Schmitz mit seiner betonten Körperlichkeit, aber mitleidheischenden Unterprivilegierten-Story und einem klaren Gespür für Angriffsschneisen bei den auf ihre Toleranz stolzen Gutmenschen. Und Anna Schindlbeck als Dienstmädchen mit Migrationshintergrund, die mit präziser Körpersprache von vornherein klar machte, dass sie durchschaut, worauf ihre Herrschaften Biedermann reinfallen.
Gang durchs Publikum
Nach der Pause machte Marchand-Biedermann mit einem Gang durch das Publikum deutlich, dass dieses in der Maßbacher Lesart des Stücks durchaus keine historische Geschichte zu sehen bekommt, dass sie/wir selbst mit ihr gemeint sind, die Probleme, Gefahren genauso real sind wie ihr Ignorieren.
Wir erkennen die Gefahr, dass auch wir uns Biedermanns Leitspruch um der körperlichen und moralischen Bequemlichkeit willen anschließen: "Ich habe das Recht, überhaupt nichts zu denken!"
Das Stück und seine Interpretation in dieser Aufführung forderten das Publikum des Theaterrings durchaus, wofür es sich am Ende bei den Darstellern mit langem Applaus bedankte.