Man hätte die Beiden von ihren Konturen her im grellen Gegenlicht der Scheinwerfer tatsächlich verwechseln können. Aber Paavo Järvi kommt nicht auf das Podium, um zu reden. Also musste es Oberbürgermeister Kay Blankenburg sein. Er war mit Intendant Dr. Tilman Schlömp auf das Dirigentenpodest gestiegen, um das Publikum vom Kissinger Sommer 2019 zu verabschieden und für das nächste Jahr wieder einzuladen. Beide sprachen von magischen Momenten und großartigen Künstlern und dankten den Besuchern für ihre Neugier und ihre Treue.
Aber dann trat wirklich Paavo Järvi vor die Bremer Kammerphilharmonie, um Mozarts "Don Giovanni"-Ouvertüre zu dirigieren. Schon die beiden ersten wuchtigen Tutti-Akkorde machten blitzschnell und eindringlich deutlich, was das Bremer Orchester so außergewöhnlich macht: In dem Moment, in dem Paavo Järvi den Taktstock zur Eins fallen lässt, haben die Musiker ihre ganze Energie zu 100 Prozent abrufbar. Da gibt es keine Schrecksekunde, keinen Anlauf, da steht die Beatmung. Und jeder weiß, wo er hin will.
So auch bei den zwei Akkorden, die "Don Giovanni" eröffnen: zwei Schläge, die das Publikum zugleich erschrecken und elektrisieren. Und die Musik kommt auch nur schwer in Gang, als wolle sie den Fortgang hinauszögern, denn die beiden Schläge signalisieren auch den Ausgang. Denn am Ende wird Don Giovanni, der Bonvivant und Schürzenjäger, tot sein. Auch die aufkeimende Heiterkeit, Don Giovannis Maske, behende und farbig musiziert, hat trotzdem einen Schleier des Vorbehalts, vermittelt das Gefühl, dass da irgendwann der große Knall kommt. Mozart verrät in dieser Ouvertüre keine Themen aus der Oper . Aber der Rahmen der Handlung, die mit einem Mord beginnt und mit einem gewaltsamen Tod endet, ist abgesteckt.
Das Dramatische setzt sich unmittelbar fort, aber nicht mit Mozart, sondern mit Beethoven, mit der Szene und Arie "Ah! Perfido". Für die Sopranistin und Artist in residence Julia Lezhneva eine Premiere, denn sie hat sie eigens für Bad Kissingen einstudiert. Umso erstaunlicher ist die Vorbehaltlosigkeit, mit der sie die unglaublichen emotionalen Kontraste gestaltet, mit welcher hasserfüllten Kraft sie den ruchlosen Liebhaber zum Teufel jagt, bis sie bemerkt, dass sie ihn dann verliert, und plötzlich von der Verfluchenden zur Bittstellerin wird und in diesem Zwiespalt verharrt. Da singt sie das Orchester in Grund und Boden, da jagt sie durch Melsmen und Koloraturen - wobei sie eine der wenigen Sängerinnen ist, die wirklich genau zwischen Koloraturen und Trillern unterscheiden. Es ist eine Achterbahn der Emotionen, die Julia Lezhneva da bestiegen hat, die man staunend beobachtet. Und in der man plötzlich entdeckt, wie sehr sich Beethoven bei der ersten Verzweiflungsattacke bei Gluck und seinem "Che farò senza Euridice" bedient. Aber das ist auch eine ähnliche Situation.
Mozarts Sopranmotette "Exsultate, jubilate" spielt auch meisterhaft auf der Gefühlsklaviatur, aber nur auf der freudvollen. Hier war es die Lust an der virtuosen freudvollen Verzückungskoloratur, die Julia Lezhneva auf die Spitze trieb, vor allem im abschließenden "Alleluja". Und es war ein Genuss zu hören, wie sie ihre Stimme von dem tänzerisch animierten Orchester tragen ließ. Venanzio Rauzzini, der Widmungsträger, muss ein verdammt guter Soprankastrat gewesen sein.
Ja und dann eben nicht, wie ursprünglich angekündigt Joseph Haydns Nr. 103 "mit dem Paukenwirbel", die im Rückblick bei aller Begeisterung relativ konventionell gewesen wäre. Sondern Mozarts "Große c-moll-Messe" KV 427, die "Unvollendete" - denn Teile des "Credo2 und das gesamte "Agnus Dei" fehlen.
Das personelle Aufgebot war enorm, denn es war gelungen den Chor des Bayerischen Rundfunks zu verpflichten. Die beiden Sopranpartien sangen Julia Lezhneva und Valentina Farcas ; die kurzen Männerpartien wurden von den Chorsolisten Moon Yung Oh und Andrew Lepri Meyer (Tenor) sowie Michael Mantaj (Bass) übernommen.
Es wurde ein überwältigendes Erlebnis. Paavo Järvi dirigierte die Musik kompromisslos weltlich, mehr auf Oper als auf Oratorium zielend, und mit enormem Vortrieb. Und dafür war der Chor genau der richtige: absolut standfest und präsent, durchhörbar auch in den fünfstimmigen und doppelchörigen Passagen und mit einem hervorragenden Timing.
Die drei Männer machten bei ihren Kurzbeiträgen ihre Sache ausgezeichnet. Julia Lezhneva spielte im "Laudamus te" und im "Sanctus" ihre ganze Intensität und Virtuosität aus. Die Duette mit Valentina Farcas waren perfekt in der Abstimmung, aber stimmlich passten die beiden nicht hundertprozentig zusammen. Valentina Farcas ging da ein bisschen unter. Aber ihr "Et incarnatus est" im Dialog mit Flöte, Oboe und Fagott war ein wunderbares Zeugnis einer aufgeklärten Frömmigkeit. Die Kraft dieser Musik trägt hinüber bis zum 19. Juni 2020. Dann beginnt der 35. Kissinger Sommer .