Herman Melvilles Monsterroman "Moby Dick" mit seinen 900 Seiten und 135 Kapiteln hat schon so manchen Leser zur Kapitulation gebracht. Auch Ulrich Tukur als Jugendlicher kam nur bis "irgendwo in der Mitte des Buches". Als er dann das von Pianist Sebastian Knauer und dessen Vater Wolfgang Knauer für Klaus Maria Brandauer zusammengestellte Literatur-und-Musik-Projekt übernahm, las er den Roman noch einmal diagonal, erkannte dabei, "welch fantastischer Schriftsteller Melville war" und erstellte eine eigene Fassung, in der sich Knauer und er auf die "Freundschaft zwischen Quequeg, dem edlen Wilden aus der Südsee" und dem Erzähler Ishmael, der sich zunächst vor dem über und über tätowierten Fremden gefürchtet hatte, konzentrierten. Vom Funktionieren dieser Fassung und dem absolut schlüssigen Zusammenwirken von Text und Musik konnten sich die Zuschauer von der ersten Szene an überzeugen.
Mit dreizehn atmosphärisch und thematisch perfekt auf die von Tukur gelesenen Textauszüge abgestimmten Kompositionen wie etwa dem düsteren "Nuages gris" von Franz Liszt am Anfang, über Scott Joplins Ragtime "The strenuous Life", Gershwins "The Man I love", aber auch einem Largo von Vivaldi/ Bach, einem langen Ausschnitt aus Dvoraks "Sinfonie aus der Neuen Welt" und sechs auf fast unheimliche Weise passenden Teilen aus Mussorgskys "Bildern einer Ausstellung" machte Sebastian Knauer mit seinen Interpretationen am Klavier die Handlung geradezu sinnlich erfahrbar. Es entstand ein Gesamterlebnis, das weit über eine Lesung mit Klavierbegleitung hinausging.
Auch hatte Ulrich Tukurs Vortrag nichts mit einer Lesung zu tun. Von Anfang an war klar, dass er die sprachliche Gewalt Melvilles, seinen Einfallsreichtum, seine an Bibel und Shakespeare geschulte individuelle Bildersprache genoss, die auch in der Übersetzung rüberkam.
Und glücklicherweise ließ Tukur auch dem großartigen Schauspieler , der er ist, die Zügel schießen. Mit Gusto ließ er den Kneipenwirt Coffin in New Bedford in seinem zerknautschten amerikanischen Slang parlieren oder den zahnlosen Elias seine Warnung vor dem unweigerlich schlimmen Ausgang der Geschichte ausrufen. Und natürlich war der von Melville sukzessive sich in seiner ganzen paranoiden Getriebenheit entlarvende Kapitän Ahab für Tukur eine tolle Gelegenheit, höchste schauspielerische Dramatik zu entfachen, auch wenn er bei der exzessiven Gestaltung von dessen Größenwahnsinn ("Wer ist über mir?") auf dem Höhepunkt seines Rachefeldzugs gegen den weißen Wal Moby Dick, der ihm einst ein Bein abgerissen hatte, an seinem Lesetischchen sitzen bleiben musste.
Die Konzentration des Programms auf die ungewöhnliche, auch im Roman immer wieder das brave Bürgertum erschreckende enge Freundschaft zwischen dem in wohlsituierten Verhältnissen aufgewachsenen Ishmael und dem Schrumpfköpfe verkaufenden Wilden Quequeg war nicht nur zeitgemäß, sondern auch dramaturgisch sehr klug. Denn sie machte es möglich, mitten unter all den Walfängern und sonstigen oft skurrilen Gestalten, die die Küstenstädte Neu-Englands und Nantuckets, Ahabs Walfängerschiff "Pequod" und die Weltmeere bevölkern, sich mit den Freunden zu identifizieren und Ishmaels zunächst nüchternen, dann immer entsetzteren Blick auf Ahab zu teilen und so die herannahende Katastrophe mitzufühlen. Und anhand dieser Freundschaft Melvilles große Menschenliebe und Toleranz zu erfahren, ganz ohne seine vielen theoretischen Abhandlungen und Traktate, die das Lesen des Textes manchmal sehr mühsam machen.
In der fremden, rauen, brutalen Welt der Walfänger und der vom Autor immer wieder betonten Unausweichbarkeit des Schicksals war es für das Publikum befreiend, dass Tukur nicht nur mit verschmitztem Grinsen auf Merkwürdigkeiten im Text aufmerksam machte, sondern ihn auch als ganz Heutiger kommentierte: Den Sohn des Clanchefs Quequeg nannte er den "Prince of Wales der Südsee" und konnte nicht umhin, Melvilles zeitkritische Feststellung, dass (zu seiner Zeit) die Amerikaner nur das Gehirn bereitstellten, die Muskelarbeit aber den anderen überlassen hätten, zu kommentieren mit: "Heutzutage ist das wohl fast umgekehrt!
Frisch, überwältigend, absolut begeisternd war diese Begegnung mit einem der großen Werke der Weltliteratur und das im sommerlich heißen Kurtheater aufmerksame Publikum dankte den beiden großartigen Künstlern mit viel Beifall und Bravorufen.