
Es ist fast fertig, Linde Unreins Bilderreigen im Münnerstädter Bahnhof, der in den vergangenen zwei Wochen als work in progress entstand. Gesichter fehlen noch, Haare, aber die Figurengruppen im Raum kann man schon erahnen. Es beeindruckt.
Unrein, in Schweinfurt lebende freischaffende Künstlerin und anerkannte Psychiaterin und Psychotherapeutin, spricht selbst von einem Tafelbild, das sie da erschaffen hat. In etwa so ist es auch, das Werk, das auf den Wänden in einem der Zimmer im zweiten Stock des Bahnhofs entstand. Unrein ist eine renommierte, abstrakte Malerin, beschäftigt sich seit Jahren mit den existenziellen Fragen des Menschen und auch ihres eigenen Tuns. Meist aber auf Leinwand oder Papier, in einem vorgegebenen Rahmen, „auf dem ich trotzdem ein ganzes Universum aufbringen kann“, wie sie schmunzelnd sagt.
Doch das Projekt Else 2, das ihr ihre Künstlerfreundin Mia Hochrein, die künstlerische Leiterin von Else 2, vorstellte, eröffnete ganz neue Möglichkeiten. Bei der Hauptausstellung zum Start von Else 2 im Mai waren Unreins Werke auf Papier in einem der Räume im Erdgeschoss zu sehen. Nun erweitert sie ihren Horizont gleich in mehrfacher Hinsicht. „Diese Idee, großflächig direkt auf die Wand zu malen, hat mich gejuckt“, so Unrein. Als sie dann den Raum sah, in dem das möglich war, sagte sie sofort zu.
Die Wirkung ihres Figurenreigens aus Frauen, Männern und einem Baby in verschiedenen Posen und ständiger Bewegung und Fluss ist beeindruckend. Der Putz des Raumes, in dem die Tapeten abgenommen sind, ist grünlich, Unrein malte mit Acrylfarbe, meist in rosafarbenen Pastelltöne für die Flächen und die Konturen in schwarzen Pinselstrichen. Man denkt, man sei mitten drin im Getümmel der Figuren, was sowohl bedrängend als auch befreiend sein kann.
Die Ambivalenz der Gefühle beim Betrachter ist gewollt – zum einen gibt es die Handlungsebene auf der Wand, die zufällige Abfolge der Figuren, die keine vorbestimmte Geschichte erzählen; zum anderen gibt es natürlich unseren unendlichen, individuellen Bilderschatz in unserem Kopf, der uns beim Betrachten der Wandmalereien über das Dargestellte reflektieren lässt. Im Übrigen ganz bewusst nicht das große Ganze. Leben, so Unrein, bedeutet für sie auch, aushalten zu müssen, eben nicht das große Ganze erfassen zu können und diese mögliche Leere auch zu ertragen.
Linde Unrein spricht für sich von „einem grenzüberschreitenden Schritt“ in ihrer Malerei, hat sie doch bisher darauf gesetzt, auf transportablem Malgrund die Welt darzustellen, wie sie sich aus ihrer Sicht offenbart. Den Mut gefasst zu haben, sich der Herausforderung zu stellen, freut sie sichtlich, auch wenn es ein anstrengendes und zeitraubendes Unterfangen war, dem Titel der Ausstellung gemäß an die Wand und durch die Wand zu kommen. Zehn Tage wird sie am Sonntag gebraucht haben, bis alles fertig ist, sie war in den letzten Wochen immer wieder mehrere Stunden vor Ort zum Arbeiten. Dass es eine vergängliche Spielwiese ist, sprich ihr Kunstwerk bei einer späteren Sanierung der Räume zerstört wird, macht ihr keine Sorgen, „das war ja von vorneherein klar“.
Die Resonanz der Besucher ist übrigens gut und unterschiedlich. Da gibt es die, die sich gleich auf die Bilder und die Raumwirkung einlassen und die, die erst über technische Aspekte, wie die Farbe auf dem Putz hält, an die künstlerische Ausführung heranarbeiten.
Ein besonderes Schmankerl hat sich kurzfristig ergeben: Am Sonntag bei der Finissage der Ausstellung ab 17 Uhr wird auch der Schweinfurter Schriftsteller Günther Hein einen Text lesen mit dem Titel „Gedehnte Zeit“. Hein, einst für den renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis nominiert und 2016 mit dem Marburger Kurzdramapreis ausgezeichnet, wuchs im Münnerstädter Bahnhof auf. Seine Lesung macht er in seinem Kinderzimmer, umrahmt von Linde Unreins Figuren.
Finissage der Ausstellungen „Lost Places“ mit Fotografien von Christine und Oliver Schikora sowie „An die Wand – durch die Wand“ von Linde Unrein im Rahmen des Projekts Ese 2 ist am Sonntag, 1. Juli, ab 17 Uhr im Bahnhof. Um 17.30 Uhr liest der Schweinfurter Autor Günther Hein einen kurzen Text zum Thema Bahnhof.
ONLINE-TIPP
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