„Die russischen Truppen wurden nördlich von Tilsit über die Grenze Ostpreußens geworfen. Der Kampf fand einen günstigen Abschluss, wobei die Infanterie bei dem aufgeweichten Boden große Schwierigkeiten zu meistern hatte“, schrieb das Coburger Tageblatt am 27. März 1915. Genau an diesem Tag wurde Rosa Stühler in Neustadt bei Coburg geboren. Heute lebt sie in Maßbach und feiert nun im Kreis ihrer Wahlfamilie Alberth den 100. Geburtstag.
Es ist ein „Glück“, wie sie sagt, dass die Alberths sie vor vier Jahren zu sich nahmen. Denn da hatte die Seniorin, die damals allein in ihrem Haus am Schalksberg lebte, gerade eine schwierige Zeit hinter sich. Ihre drei Kinder sind ja schon vor längerer Zeit gestorben, mit den Enkeln gab es später Erbstreitigkeiten. Daraufhin bekam sie gesundheitliche Probleme, musste auf Geheiß eines Enkels ins Seniorenheim umziehen.
Christine Alberth, die jahrelang bei Rosa Stühler eine Putzstelle hatte, verfolgte den sichtbaren Verfall der einst so fitten Seniorin mit gemischten Gefühlen. Schließlich beriet sie sich mit ihrem Mann. Auch für ihn war sofort klar, dass man die „Oma“, wie sie von der Familie liebevoll genannt wird, sofort wieder aus dem Heim holen musste. Bei den Alberths hat sich Rosa Stühler super erholt. Sie macht ihre kleinen Spaziergänge, liest Zeitung und strickt wieder.
Nur das Tanzen geht halt nicht mehr – leider! Rosa Stühlers Augen leuchten plötzlich, wenn sie von den 1930-er Jahren erzählt: Das waren noch Zeiten, als sie mit ihrem Mann Kurt in der Küche tanzte, während die Grammofonnadel auf dem Schellack heißlief. Foxtrott, Shimmy, Walzer, Schieber – das Tanzen hatte nach dem Ersten Weltkrieg auch überall in Deutschland Hochsaison.
Oh, donna clara
Besonders der Tango hatte es der jungen Rosa angetan. Sie strahlt, wenn sie davon spricht: „Wir waren gute Tänzer.“ Beim Tanzen in einer Sennfelder Gastwirtschaft hatten sie und ihr späterer Mann sich auch kennengelernt. Sie war damals bei einer Sennfelder Familie in Stellung, Kurt arbeitete bei der Stadt. 1936 wurde geheiratet. Dann kamen die Kinder Christine, Kurt und Manfred zur Welt. Aber Kurt Stühler musste in den Krieg ziehen. Schwer verwundet kam er nach ein paar Jahren heim.
Schon als Kind hatte Rosa Stühler verinnerlicht, was Krieg bedeutete. Denn auch ihr Vater musste an die Front. Auch er wurde verwundet und geriet sogar in russische Gefangenschaft. Sie und ihre Geschwister schlugen sich zu Hause durch. „Wir haben immer gearbeitet“, erzählt sie über die kargen Jahre zwischen den Kriegen und meint damit auch ihre Mutter, die schwer lungenkrank war und trotzdem in Heimarbeit für die Spielzeugfabrik im nahen Sonneberg Puppen zusammensetzte und Plüschbären polsterte.
Sie selbst ging mit 14 Jahren bei einer Familie in Rothenburg in Stellung. „Da hatte ich Heimweh“, gesteht sie. „Aber beim Arbeiten habe ich's vergessen.“ Später arbeitete sie bei anderen Familien, zuletzt in Sennfeld. Nicht zu vergessen das Fischgeschäft in Schweinfurt, in dem sie auch Fisch abwog und verpackte – und das für acht Mark im Monat.
1964 starb ihr Mann. Etliche Jahre lebte sie noch in Schweinfurt, kaufte sich später ein Haus in Maßbach und entdeckte das Leben neu. Mit 70 Jahren meldete sie sich bei einem Wanderclub an und war jedes Wochenende auf Schusters Rappen unterwegs. „21 000 Kilometer bin ich gelaufen, das hab' ich schriftlich“, sagt sie stolz. Ein anderer „Rekord“ ist der, dass sie bis zu ihrem 95. Lebensjahr noch selbst Auto fuhr.
Mit Pillen hat Rosa Stühler nichts am Hut. Ihr Geheimrezept für ein hohes Alter: „Einen einfachen Lebensstil wahren, nicht rauchen und trinken und viel lachen.“ Die Alberths haben sicher das Ihrige dazu beigetragen, dass ihre „Oma“ wieder fit ist. Zum Beispiel als sie ihr „Pflegekind“ anlässlich des 99. Geburtstags zu einem Konzert von Semino Rossi mitnahmen, weil der „so schön singt“, wie Rosa Stühler findet.
Heimlich meldeten sie bei Rossis Agentur den Besuch ihrer 99-jährigen Oma an – und prompt kam der Schlagersänger auf die Seniorin zu und schloss sie in seine Arme. Zum heutigen 100. Geburtstag sorgten die Alberths dafür, dass Rosa Stühler zumindest in der kosmischen Welt auf ewig weiterlebt: Sie ließen nämlich eine Stern nach ihr taufen.