zurück
Lohr am Main
Mehr als Katheder und Tintenfass
Geöffnet  Im Lohrer Schulmuseum gibt es deutsche Geschichte zum Anfassen.
Das Klassenzimmer um 1910 weist auf den hierarchischen Aufbau hin: die Bänke auf unterster Ebene sind nach vorne ausgerichtet, erhöht auf einem Podest das Lehrerpult. Das zeigt den Ausdruck der Autorität des Lehrers als Vertreter der Staatsgewalt ...       -  Das Klassenzimmer um 1910 weist auf den hierarchischen Aufbau hin: die Bänke auf unterster Ebene sind nach vorne ausgerichtet, erhöht auf einem Podest das Lehrerpult. Das zeigt den Ausdruck der Autorität des Lehrers als Vertreter der Staatsgewalt mit Strafbefugnis; über dem Lehrer deutlich sichtbar für die Schüler hängen das Bild des Landesmonarchen (Prinzregent Luitpold) und das Kruzifix: Die Schüler sollen stets vor Augen haben, wem sie Gehorsam schuldig sind, das Bild des Monarchen soll sich einprägen.
Foto: Ulrich Prantl | Das Klassenzimmer um 1910 weist auf den hierarchischen Aufbau hin: die Bänke auf unterster Ebene sind nach vorne ausgerichtet, erhöht auf einem Podest das Lehrerpult.
Redaktion
 |  aktualisiert: 14.10.2024 01:06 Uhr

„Es steht für mich außer Frage, dass das Schulmuseum Lohr national und international zu den attraktivsten Schulmuseen zählt“, sagt der Pädagogikprofessor Max Liedtke. Leider ist immer wieder festzustellen, dass das 1989 eröffnete Schulmuseum in Lohr Sendelbach in der Region trotz seiner Größe und medialen Präsenz nur über eine begrenzte Bekanntheit verfügt, schreibt das Museum in einer Pressemitteilung. Am Sonntag, 27. Oktober, ist der Eintritt sogar frei. Geöffnet ist von 14 bis 16 Uhr. Worauf gründet sich die Aussage des bekannten Museumsexperten Liedtke?

Da sind auf der einen Seite die umfangreiche, über 3000 Exponate umfassende Sammlung sowie die zwei komplett eingerichteten Klassenzimmer zu nennen, anhand derer sich der Besucher des Schulmuseums einen fundierten Einblick in 200 Jahre Schul- und Erziehungsgeschichte verschaffen kann, auf Anfrage auch mit Führung inklusive einer Unterrichtsstunde im Stil der Kaiserzeit.

Doch nicht dieser volkskundliche Aspekt ist es, der das Lohrer Schulmuseum so besonders interessant macht und es vor anderen Museen seiner Art auszeichnet. Es ist vielmehr sein einmaliges historisch-politisches Konzept. Die Vermittlung volkskundlichen Wissens steht hier nicht im Vordergrund, das Lohrer Schulmuseum versteht sich in erster Linie als politisches Museum, in dem mit den Schwerpunkten „Kaiserzeit“ (1871 bis 1918) und „ Drittes Reich “ (1933 bis 1945) dem Besucher klargemacht werden soll, dass Schule schon immer vom jeweils herrschenden Regime ge- und missbraucht wurde, um die Jugend in seinem Geiste heranzuziehen.

So dominierte in der Schule der Kaiserzeit der Untertanengeist: Gehorsam, Zucht, Ordnung, Disziplin waren Tugenden, die den Kindern schon von früh auf beigebracht und, wenn nötig, mit Gewalt eingeprügelt werden mussten. Hauptaufgabe zumindest der Volksschullehrer war daher nicht die Vermittlung von Bildung und Wissen, sondern das fast militärisch anmutende drillmäßige Einüben untertanenadäquater Verhaltensformen.

Landesfürst und Kruzifix über dem Pult

Über dem erhöhten Lehrerpult hingen das Bild des Landesfürsten, in Bayern um 1910 Prinzregent Luitpold , und auf gleicher Höhe das Kruzifix. Dies immer vor Augen, sollten die Kinder von der ersten Klasse an lernen, wem sie Respekt und Gehorsam schuldig waren. Der Lehrer als Stellvertreter des Monarchen im Klassenzimmer war praktisch der unumschränkte Herr über die Schüler und konnte seine Autorität mit exekutiver Strafgewalt durchsetzen. So, wie die Schüler ihm gegenüber parieren mussten, so waren sie später als Erwachsene den königlichen Beamten und der Staatsgewalt ausgeliefert.

Diese strenge hierarchische Gesellschaftsform fand ihre Untermauerung in den Lehren der christlichen Kirchen, die nicht müde wurden zu verkünden, dass die Monarchen von Gottes Gnaden eingesetzt worden seien, dass ohnehin alles nach Gottes Wille geschehe und jeder Mensch daher nach göttlichem Ratschluss an seinen Platz gestellt worden sei, um dort seine ihm zugedachte Aufgabe zu erfüllen.

Täglich eine Stunde Religion

Ungehorsam wurde als Aufbegehren gegen diese göttliche Ordnung angesehen und dem Delinquenten mit der ewigen Verdammnis im Höllenfeuer gedroht. Mit diesem Bild des strafenden „Polizeigottes“ konnte man das gläubige Volk hervorragend einschüchtern. Kein Wunder also, dass von staatlicher Seite den Kirchen weitreichende erzieherische Befugnisse zugestanden wurden und der Religionsunterricht täglich mit einer Stunde im Stundenplan festgelegt war.

Wie die Kindheit in der Kaiserzeit aussah, stellt das Museum aber nicht nur anhand des schulischen, sondern auch des familiären und religiösen Lebens dar und rundet damit das Gesamtbild ab.

Neben dieser generell vorherrschenden Tendenz der Untertanenerziehung wird dem Besucher auch eindringlich verdeutlicht, dass bereits der Zeitgeist um die Jahrhundertwende von rassistischen und antisemitischen Vorstellungen vergiftet war. Sei es, dass in einem Schulwandbild mit dem Titel „Germanisches Gehöft“ für den Geschichtsunterricht schon der arische Herrenmensch seine ersten Grundzüge erhält, sei es, dass im Biologieunterricht das hybride Selbstverständnis der weißen (europäischen) Rasse als „Träger der Zivilisation und der Weltgeschichte“ (Kommentar zu einem Schulwandbild) seine Bestätigung findet. Überall sind die Anzeichen für die geistigen Grundlagen des Nationalsozialismus zu erkennen, welche über Unterricht und Erziehung Eingang in die Köpfe der Schüler der Kaiserzeit fanden.

Logische Konsequenz ist es, dass sich das Museum ein Stockwerk höher mit dem Schulsystem und der Erziehung im Dritten Reich auseinandersetzt. Nicht nur, dass der NS-Staat ideologisch auf Strömungen der Kaiserzeit aufbaute, seine Entstehung und schnelle Etablierung als totalitäres System wurde durch die in der Kaiserzeit antrainierte antidemokratische Obrigkeitshörigkeit der breiten Masse begünstigt.

Manipulation der Jugend im Dritten Reich

Für das Museum bildet die Thematik der Erziehung im Dritten Reich zudem das Kernstück seines Konzepts. Kein anderes Regime vorher nutzte Schule, Medien und Jugendorganisationen so exzessiv zur Manipulation der Jugend. Jetzt stand nicht einfach nur – für sich gesehen wertneutraler – Gehorsam, sondern der linientreue arische Nationalsozialist im Mittelpunkt der ideologischen Ausrichtung.

Den gesamten Unterricht und alle Fächer instrumentalisierte man für die nationalsozialistische Sache. Im Fach Deutsch wurde das Lesen mit „Heil Hitler“ und ähnlichen Parolen beigebracht, Rechnen lernte man mit der Addition und Subtraktion von Soldaten und Panzern. Im Fach „Lebenskunde“ wurden Themen wie „Vernordung nichtnordischer Rassen“ oder „Die Erbkranken und die Kosten, welche sie verursachen“ behandelt, in entsprechenden Textaufgaben berechnete man dann, wieviele Einfamilienhäuser von diesen Geldern gebaut werden könnten. Der Geschichtsunterricht zeigte das scheinbare Missverhältnis von Weite und Größe des deutschen Kulturraums zur Beengtheit der deutschen Grenzen.

Wie bei der Kaiserzeit bleibt das Museum nicht bei der schulischen Erziehung stehen, sondern liefert auch hier ein Gesamtbild der Kindheit im Dritten Reich , zu dem auch die Erziehung im Elternhaus und die Indoktrination in den Jugendorganisationen der NSDAP gehören.

Um es dem Besucher zu erleichtern, Ähnlichkeiten, Veränderungen und Unterschiede im Dritten Reich gegenüber der Kaiserzeit zu entdecken, sind die beiden Stockwerke thematisch deckungsgleich zueinander aufgebaut. Dort, wo in der Kaiserzeit das Kruzifix prangt, hängt nun die Wochenparole, ein wöchentlich wechselnder Spruch nationalsozialistischen Inhalts.

Wo sich im Stockwerk „Kaiserzeit“ das Religionszimmer befindet, ist nun das HJ-Zimmer, wodurch verdeutlicht wird, dass die Ideologie die Rolle der Religion übernehmen wollte und die Religion als feindliche Gegenideologie aus dem öffentlichen Leben verdrängt werden sollte. Aus dem Ministranten von einst sollte der Hitlerjunge werden.

Grausam statt tolerant

Eine „herrische, grausame Jugend“ war Hauptziel dieser Erziehung, zu deren Weltbild Attribute wie Toleranz, Gleichheit aller Menschen und Nächstenliebe nicht mehr passten. Religion hatte ausgespielt und verschwand fast vollständig aus dem Lehrplan. Sport nahm nun den obersten Platz der Fächer ein.

Eingerahmt sind diese geschichtlichen Schwerpunkte auf der einen Seite von der Aufklärung, dem Beginn der Schulpflicht und der Entwicklung der Schule im 19. Jahrhundert und auf der anderen Seite von einem Ausblick auf die Schule und Erziehung in der ehemaligen DDR sowie der Bundesrepublik. Geschichtlich beginnt das Schulmuseum mit der Aufklärung, denn mit ihr begann ein Prozess, der nicht Gott, sondern den Menschen ins Zentrum der Welt stellt. Diese Entwicklung führte letztendlich in intellektuellen Kreisen zur Abkehr von den herkömmlichen Religionen und, da der Mensch an etwas glauben muss, zur Begründung weltlicher bzw. politischer Religionen und umgekehrt zu einer Sakralisierung der Politik, an deren Ende die heilsverkündenden totalitären Ideologien des Nationalsozialismus und Kommunismus standen. Die – wenn auch falsch verstandene – Aufklärung stellt daher die Wurzel des Nationalsozialismus dar.

Mit dem Ausblick auf die ehemalige DDR beleuchtet das Museum das Schul- und Erziehungssystem des zweiten Ablegers der Aufklärung, des Kommunismus, und dokumentiert die erschreckenden Parallelen zwischen den Methoden der Kommunisten und denen der Nationalsozialisten . Nach der HJ ( Hitlerjugend ) des NS-Staates bestimmte nun die FDJ in der DDR das Leben der jungen Generation.

Dokumentation statt Belehrung

Ein weiterer bemerkenswerter Punkt des Konzepts des Lohrer Schulmuseums ist, dass all die eben genannten Erkenntnisse und Schlussfolgerungen dem Besucher nicht belehrend aufgedrängt werden. So ist das Maß an Kommentierungen auf ein notwendiges Minimum reduziert, die Dokumentation erfolgt hauptsächlich durch Originaltexte, anhand derer sich der Besucher ein eigenes, von Seiten des Museums möglichst unbeeinflusstes Bild machen kann, denn ein Museum darf kein Ort geschichtlicher oder politischer Gängelung sein.

Das Städtische Schulmuseum in Lohr im Stadtteil Sendelbach, Sendelbacher Straße 21, ist von Mittwoch bis Sonntag und an allen gesetzlichen Feiertagen von 14 bis 16 Uhr geöffnet.

Der Göpfertladen, um 1910, Miniatur von Gertrud Lohr       -  Der Göpfertladen, um 1910, Miniatur von Gertrud Lohr
| Der Göpfertladen, um 1910, Miniatur von Gertrud Lohr
Die Dampfmaschine für den künftigen Ingenieur um 1910       -  Die Dampfmaschine für den künftigen Ingenieur um 1910
| Die Dampfmaschine für den künftigen Ingenieur um 1910
 
Themen & Autoren / Autorinnen
Antisemitismus
Das dritte Reich
Hitlerjugend
Jugendorganisationen und Jugendeinrichtungen
Luitpold von Bayern
NSDAP
Nationalsozialisten
Schulmuseen
Schulmuseum Lohr
Weltbild-Verlag
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen
Kommentare
Aktuellste
Älteste
Top