Wie beginnen? Fangen wir am einfachsten mit der Gegenwart an, mit der Realität. Da konnte man jüngst Zeuge werden, wie mitten in Oxford ein junges, sichtlich verliebtes Paar ein Pub betrat, sich am Tresen Getränke holte und bezahlte, sich an einen Tisch in einer lauschigen Ecke setzte. Dann zogen beide ihre Handys aus der Tasche und begannen heftig zu tippen. Ob sie miteinander kommuniziert haben, wissen wir nicht, denn es war ja nichts zu hören, und sie haben sich auch nie angeschaut. Als nach einer halben Stunde die Gläser leer waren, standen die beiden auf, steckten ihre Handys wieder ein und verließen, sichtlich verliebt, das Lokal.
Was hat diese absolut unbedeutende Episode mit dem Lauf der Weltgeschichte zu tun? Auf den ersten Blick: nichts! Aber beim zweiten Blick merkt man, dass diese kleine Szene eine Art Zwischenstand ist auf dem Weg der Menschheit in eine Zukunft, die der Engländer E. M. Forster 1909 in der Novelle "The Machine Stops" ("Die Maschine steht still") in einer absolut beklemmenden und vorausahnenden Weise beschrieben hat. Denn Forster hat in 110 Jahre später erschreckender Weise eine Welt vorausgesehen, die sich aus unserer heutigen entwickeln kann, wenn dieser Entwicklung nicht Einhalt geboten wird. Er hat eine Welt beschrieben, der die unsere immer ähnlicher wird, und das Verblüffende ist: vor allem im virtuellen, im digitalen Bereich. Forster hat eine vernetzte Welt erfunden, als Konrad Zuse , der Erfinder des ersten rechenfähigen Computers, noch nicht einmal geboren war - eine Welt, die erst vor kurzem in Begrifflichkeiten fassbar wurde wie Internet , Monitor oder soziale Medien.
Menschen leben unter der Erde
Aber Verheißung bedeuten sie nicht. Denn die Erde ist unbewohnbar geworden. Die Menschen haben sich unter die Erde zurückgezogen, leben in einem Wabensystem in lauter Einzelzellen. Sie bewegen sich nicht mehr - und entsprechend sehen sie aus. Sie könnten sich zwar besuchen, aber das ist viel zu anstrengend und lohnt sich nicht. Kommunikation mit den anderen Menschen gibt es nur noch elektronisch. Für ihre Existenz sorgt lückenlos die Maschine. Sie ist an die Stelle eines Gottes getreten, ihr Handbuch - das große rote M auf dem Buchdeckel erinnert sofort an das M von Google-Mail - ist die neue Bibel, aus der sie ihre Wahrheiten beziehen. Die Lektüre dieser Bibel und das Halten von kleinen dümmlichen Vorträgen, die zu den anderen Menschen übertragen werden ( Facebook lässt grüßen) sind das Einzige, was noch zu tun ist.
Vashti hat sich mit dieser Situation abgefunden. Sie fläzt in einem Sessel wie ein auf den Rücken gefallener Käfer. Allein schon der Gedanke aufzustehen treibt sie in die Krise, und sie schafft es auch nur mit Hilfe der in den Sessel eingebauten Motoren. Sie hört manchmal Musik, blättert manchmal im Handbuch oder hält einen der dümmlichen Vorträge. Ihr Sohn Kuno lebt am anderen Ende der Welt. Er tritt mit ihr in Kontakt und bittet sie, zu ihm zu kommen. Was er zu sagen habe, lasse sich nicht über das Netz sagen. Vashti ist entsetzt, aber sie quält sich auf den Weg. Es stellt sich heraus, dass Kuno, der der Maschine skeptisch gegenüber steht, einen Fluchtversuch unternommen hat, weil er glaubt, dass es auf der Erde doch noch Menschen gibt, und ist unter die Räder der Maschine gekommen. Und dann passiert das, was niemand für möglich gehalten hat: Plötzlich steht die Maschine still. Die letzte Katastrophe kann beginnen...
Wunderbar gespielte Komödie
Das klingt zugegebenermaßen alles ein bisschen sehr erfunden. Man soll ja mit Superlativen sparsam sein. Aber Anne Maar , die Forsters Novelle neu übersetzt und im Intimen Theater inszeniert hat, hat mit ihrer Truppe ( Susanne Pfeiffer , Benjamin Jorns, Silvia Steger, Ingo Pfeiffer, die sich die zwölf Rollen teilen) eine absolut schlüssige, glasklare, nachvollziehbare Deutung erarbeitet. Man merkt schnell, dass man das, was auf der Bühne geschieht, durchaus verstehen kann, auch wenn es so fremd wirkt (und ja auch noch ist), und die Skepsis wandelt sich in konzentrierte, interessierte Spannung.
Und es sind nicht nur die Situation und die Handlungen dieser Dystopie, dieser negativen Utopie, die die Aufmerksamkeit und das Nachdenken fesseln. Es sind nicht nur Einblicke in die Strukturen dieser eigentlich nicht zu fassenden Maschine, ihrer diktatorischen Macht und ihrer Institutionen wie etwa des "Korrekturapparates". Sondern es sind auch viele kleine Details in der äußerst gründlichen Personenregie, viele Ideen, die Augen und Ohren in Atem halten und das Geschehen verdichten. Wenn Susanne Pfeiffer sich mit ihren gefühlten 180 Kilo aus ihrem Sessel quält und sich zur Türe ihrer Wabe schleppt (Kostüme: Christina Halbfas, Bühne: Jörn Hagen), dann ist das für Vashti ein absolutes Drama, aber für die Zuschauer pure, wunderbar gespielte Komödie. Und das ist auch gut so. Denn das häufige Lachen verhindert, dass sich eine wachsende Beklemmung wie eine ranzige Fettschicht über das Gemüt legt.
Zumal Anne Maar in einer Hinsicht auch gnadenlos ist: Immer wieder bringt sie aktuelle Bezüge aus Politik und World Wide Web ins Spiel, die durch die Hintertüre klar machen, dass auf der Bühne Dinge verhandelt werden, die jeden betreffen. Da gibt es kein Leugnen und Entziehen. Insofern ist man geradezu glücklich, dass die vier Wabenbewohner, als sie aus der verröchelnden Maschine in das Bühnenhinterzimmer fliehen, das Publikum auf dem Fluchtweg mitnehmen und in Sicherheit bringen. Den großen Applaus gibt es deshalb erst im Treppenhaus des Schlosses. Erleichtert und sichtlich verliebt verlässt man das Theater und steuert das nächste Wirtshaus an...