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Bad Kissingen
Magische Bilder zur Carmina burana
Statt Innenhof ging es in den Max-Littmann-Saal, statt Orchester und Chor gab es Musik aus der Konserve: Dennoch war es eine gelungene Aufführung.
Wenn 'diu chünegin von Engellant lege an minen armen' (wenn die Königin von England in meinen Armen läge) - und plötzlich liegt sie da. Michael Carstens hatte die Texte der Carmina Burana zum Teil sehr konkret illustriert. Foto: Gerhild Ahnert       -  Wenn 'diu chünegin von Engellant lege an minen armen' (wenn die Königin von England in meinen Armen läge) - und plötzlich liegt sie da. Michael Carstens hatte die Texte der Carmina Burana zum Teil sehr konkret illustriert. Foto: Gerhild Ahnert
| Wenn "diu chünegin von Engellant lege an minen armen" (wenn die Königin von England in meinen Armen läge) - und plötzlich liegt sie da.
Thomas Ahnert
 |  aktualisiert: 17.08.2022 14:15 Uhr

Eigentlich war das eine wunderbare Idee für den Kissinger Sommer : Carl Orffs "Carmina burana", nicht zuletzt dank des Einsatzes in der Werbung eines der bekanntesten Musikwerke überhaupt, mit großem Orchester, Chören und Solisten unter freiem Himmel im Innenhof des sommerlichen Luitpoldbades. Und das nicht nur punktgenau zum 125. Geburtstag des Komponisten , sondern auch, ganz in dessen Sinne, mit der Projektion von "Magischen Bildern" des Berliner Videokünstlers Michael Carstens - ein Rundum-Erlebnis.

Riesige LED-Wand

Aber Corona hat diese Pläne brutal zerschlagen: kein Orchester, keine Chöre, keine Solisten, kein lauer Sommerabend, kein abendliches Vogelgezwitscher, das so gut dazu gepasst hätte. Stattdessen ein Umzug in den Max-Littmann-Saal mit einer riesigen LED-Wand auf der Bühne. Die Musik kam aus der Konserve. Wobei der Umzug nach innen eigentlich kein Nachteil war, auch wenn die Entwicklung der passenden Stimmung dadurch länger brauchte. Aber im Gegensatz zum Freien, wo sich die Klänge schnell verteilen und verflüchtigen, konzentriert sie der Saal, macht er sie haltbarer. Und er konzentriert auch das Publikum, weil es keine Ablenkung gibt. Außerdem ist er etwas wärmer als der Innenhof.

Man konnte sich wider Erwarten recht schnell an die abgespeckten Verhältnisse gewöhnen, und das nicht nur, weil Michael Carstens in einem kleinen gefilmten Vorwort einige Hinweise auf die Hintergründe, den Entstehungsprozess und auch auf Inhalte gab. Sondern auch, weil die technische Wiedergabe perfekt war (Kompliment an die Technik!) und man sich so ungetrübt auf die ganze Sache einlassen konnte.

Kultaufnahme von 1975

Und da fiel zuallererst, weil sie ja auch den Anfang macht, die Musik auf. Sie wird gerne als Kultaufnahme bezeichnet: die Einspielung von Kurt Eichhorn aus dem Jahr 1975 mit dem Münchner Rundfunkorchester , dem Chor des Bayerische Rundfunks und den Solisten Hermann Prey , Lucia Popp und John van Kesteren als Schwan, an der Carl Orff noch maßgeblich beteiligt war. Sie hat die Bezeichnung zu Recht, wenn man bedenkt wie sehr vor allem in München damals noch die Diskussion über historische Aufführungspraxis in den Kinderschuhen steckte - natürlich war Orffs Musik damals modern, aber eingerichtet für historische Stoffe, zumindest so, wie sich Orff das vorstellen konnte. Herausgekommen ist eine handwerklich perfekte Einspielung, die nicht, wie damals üblich, auf Glätte und Anpassung zielt, sondern auf starke Kontraste und Reibungen, auf Emotionen und Klangfarben. Und auf einen enormen Schwung. Freilich waren damals die Solisten, allen voran Hermann Prey , auch bestens disponiert.

Ins heutige Berlin verlagert

Und was hatte man sich unter "Visuals" vorzustellen, die bei Orff noch "Magische Bilder" heißen? Michael Carstens hat einen interessanten Ansatz gefunden. Er hat bei seinen Illustrierungen der Musik Orffs Modernitätsansatz und das Leben aus dem Mittelalter in das heutige Berlin verlagert, wenn die Bilder nicht im Abstrakten bleiben. Das heißt: Es sind keineswegs nur ununterbrochen zerfließende und wechselnde Farben, die der Zuschauer zu sehen bekommt, und die nach fünf Minuten jeden Reiz verloren haben. Sondern es ist eine Mischung aus Filmsequenzen, die natürlich nur am Computer entstanden sind, aber das sind wenige. Die meisten Schnipsel basieren auf mehr oder weniger stark nachbearbeiteten oder verfremdeten realen Filmszenen mit sieben echten Menschen, mit befreundeten Schauspielern . Fortuna, die nicht nur am Anfang und Ende entsprechend den Texten auftritt, sondern auch immer wieder in kurzen Abschnitten als Bindeglied zwischendurch, ist Michael Carstens Frau Taikka Tirok.

Wie ein Drehbuch

Natürlich gibt es Szenen, in denen die Texte wie ein Drehbuch wirken, wie bei "Reie" (Reigen), wenn es heißt: ...megede, die wellent an man alle disen sumer gan (Mägdelein, die wollen ohne Mann diesen ganzen Sommer gehen). Dann sieht man zwei junge Frauen, die mit einem Fahrrad auf eine Spreebrücke fahren, dort wie entfesselt tanzen, aber am Ende doch ziemlich frustriert schauen. Oder in "Were diu werlt alle min" (Wäre die Welt ganz mein), in dem der junge Mann der Welt entsagen würde, wenn "diu chünegin von Engellant lege an minen armen" (wenn die Königin von England in meinen Armen läge) - und plötzlich liegt sie da. Und aus ihrem geöffneten Mund steigt nicht ein Rauchkringel auf, sondern ein kleiner Flugsamen von einem Löwenzahn. Das sind ungemein poetische Bilder - auch wenn sich eine junge Frau in einem blauen Kleid (keine Nixe!) zur Musik schwerelos unter Wasser bewegt ("Amor volat undique"). "In taberna" ist kein saufender Massenauflauf, sondern vier einzelne Männer, die immer mehr Gläser um sich versammeln. Was man vergebens sucht, ist da der Schwan, der am sich drehenden Bratspieß steckt und über sein Schicksal jammert. Aber vielleicht signalisieren die Einzelgänger ja auch, dass sie das nicht im Geringsten interessiert.

Mit einem Mal nicht zu schaffen

Oft sind es computeranimierte Kreationen wie ein tanzender bunter Wald aus vermeintlicher Knetmasse ("Floret silva nobilis") oder einfach nur ziehende Wolken am Himmel oder eine kurze S-Bahn-Fahrt, die die Phantasie des Betrachters wecken - und ihn immer wieder ziemlich stark fordern. Denn der versucht, ihm bisher unbekannte Bilder mit einem unverständlichen Text und einer unüberhörbaren Musik unter einen Hut zu bringen und Bezüge zu suchen, die mitunter gar nicht da sind. Den Text mitlesen geht nicht, denn es ist zu dunkel, und wer in den Text schaut, schaut nicht auf die Bilder. Und einfach nur die optischen und akustischen Eindrücke auf sich wirken zu lassen, das schafft nicht jeder.

Was man hier sehen und hören konnte, ist mit einem Mal nicht zu erledigen. Das ist ein Werk, bei dem man mit jedem neuen Hören und Sehen mehr entdecken könnte und das so den Eindruck der Beliebigkeit allmählich verlieren würde. Vielleicht hat die Carl-Orff-Gesellschaft in München ein Einsehen und produziert davon eine DVD. Vielleicht lässt sich die Aufführung aber auch irgendwann einmal in der ursprünglich geplanten Version wiederholen. Denn dem Kissinger Sommer steht ein derartiges Experiment wirklich gut zu Gesicht.

 
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