Das war ein Konzert, das offenbar in eine Marktlücke stieß, denn der Rossini-Saal war so gut wie ausverkauft: "Navidad indigena" oder "Weihnachten der Eingeborenen" (nicht zu verwechseln mit dem "eingeborenen Sohn"), wobei die Eingeborenen in Italien und Spaniern genauso gut leben konnten wie in Chile oder Peru. Die Kombination ist kein Zufall. Denn als die barocke Weihnachtsmusik in den mediterranen Ländern fröhliche Urständ feierte, wurde sie von den jesuitischen Missionaren auch nach Südamerika mitgenommen, wo sie sich schnell heimisch machte. Traditionelle Konkurrenz gab es schließlich nicht.
Das Ensemble "Los Temperamentos" war aus Hamburg mit sieben Leuten angereist: eine Sängerin, zwei Geigerinnen , ein Flötist, ein Cellist, ein Lautenist und Gitarrist sowie eine Cembalistin. Man sieht schon, dass das eine Besetzung ist, die vieles ermöglicht, vom Volkstanz bis zur formstrengen Generalbassmusik einer Sonate. Und "Los Temperamentos" entwickelten genau diese Bandbreite, indem sie ihrem Namen Ehre machten und kräftig hinlangten.
Was dabei zu allererst deutlich wurde, war, dass wir Deutschen im Ausdruck unserer Weihnachtsfreude zu einer sichernden, vorsichtigen Betulichkeit neigen, vielleicht wegen des alles zudeckenden, leise rieselnden Schnees - den es allerdings auch in den Anden gibt. Aber der deutlich extrovertierteren mediterranen Weihnachtsfreude haben "los indigenos" noch eins draufgesetzt - und das nicht nur in der Instrumentalmusik : mit kleinen, pfiffigen Albereien, mit mitreißenden, nicht immer unkomplizierten Rhythmen und mit erheblichem Gebrauch von Schlagwerk.
Das war die eine hinreißende Erfahrung des Abends. Die andere war, mit welcher Ernsthaftigkeit, Genauigkeit und differenzierter Feinabstimmung man diese Musik so spielen kann, dass sie eine gewisse Schwerelosigkeit bekommt, dass auch der frei gestaltete Gesang sich abhebt, aber trotzdem in Verbindung mit der Begleitung bleibt. Oder wie souverän man mit stark schwankenden Emotionen spielen kann - auch in Südamerika kennt man schließlich die Melancholie. Selbstredend, dass ausschließlich Kopien historischer Instrumente zum Einsatz kamen.
Und man erfährt etwas vom Padre Martin Schmitt , dessen Aufzeichnungen aus dem frühen 18. Jahrhundert erst 1970 wieder entdeckt wurden oder dass es in Peru eine Oper namens "San Ignacio" gab oder dass Bach und Händel nicht nur Einfluss auf die Italiener , sondern auch auf die Südamerikaner hatten, dass es ein Wiegenlied gab, in der nicht nur Maria, sondern auch ein Gott der Inkas besungen wurde, dass sich "Maria" sehr schön auch auf "allegria" ("Heiterkeit") reimen kann. Oder dass man den ausgebleichten Unterkieferknochen eines Esels auch als Rhythmusinstrument einsetzen kann (klingt ein bisschen nach Waschbrett). Nein, das war ein wirklich schöner und anregender Abend, der das schlechte Wetter zum bedeutungslosen Statisten machte.
Aber was trotzdem wirklich ärgerlich war: Es gab kein Programm, sondern nur gelegentlich eine freundliche Moderation. Natürlich ist es für den einen oder anderen schon genug, sich einfach in die Musik fallen zu lassen. Aber das könnte man auch am Radio tun, dazu müsste man nicht in ein Konzert gehen. Aber bei einem solchen Programm, das für die meisten Besucher die Begegnung mit vollkommen neuen Ausprägungen der Musik bringt - was weiß man hierzulande schon über das Weihnachtsfest in Chile oder Peru und seine musikalischen Gepflogenheiten - hätte man gerne mehr erfahren. Sei es nur die Schreibung von Komponistennamen oder Titeln, sei es die Frage, wie ein etabliertes deutsches Weihnachtslied zu einer Tarantella werden konnte: ob das eine Bearbeitung des Ensembles oder eine ältere Übernahme war. Oder wie ein peruanischer Komponist Schüler eines italienischen Tonsetzers werden konnte, denn es waren ja nun wirklich nicht die Italiener, die die Andenstaaten kolonisiert haben. Man hätte gerne öfter erfahren, ob die Musik nun aus Südamerika, Italien oder Spanien stammte - oder ob es eigene Arrangements waren.
Natürlich gab es immer mal wieder kleinere Merkmale, die Vermutungen auslösen konnten. Aber in der Barockzeit hatte sich die von den europäischen Missionaren übernommene südamerikanische Musik noch nicht so emanzipiert, dass sie lokalisierbar wurde. Und auch in Italien und Spanien konnte sie verdammt folkloristisch sein. Der eine oder andere hätte vielleicht gerne etwas mit nach Hause genommen als Grundlage weiterer Recherchen. Aber wenn vier Stücke en bloc gespielt und vorher auch en bloc angesagt wurden, dann wusste man am Ende des ersten schon nicht mehr, wie das zweite hieß und was es sein sollte. Schade!
Eine absolute Premiere war allerdings etwas anderes - und da kann man eigentlich alle Konzerte im Regentenbau einbeziehen: Es war das erste Konzert, bei dem das Publikum nicht wusste, wer da diese wunderbare Musik machte. Gut, den Namen des Ensembles konnte man wissen, denn der stand auf dem Ticket: "Los Temperamentos". Aber wer die sieben Leute waren? Fehlanzeige! Sie sollen hier nachgeliefert werden, sofern das Internet Auskunft geben kann: Swantje Tams Freier ( Gesang ), Franciska Anna Hajdu (Barockvioline), Néstor Fabián Cortés Garzón (Barockvioloncello), Hugo Miguel de Rodas Sanchez (Barockgitarre, Laute) sowie Nadine Remmert (Cembalo). Wer die zweite Geigerin und der Flötist waren, konnte nicht einmal über die Homepage des Ensembles ermittelt werden. Vielleicht können wir die Namen nachtragen, wenn das Ensemble einmal wiederkommt. Das wäre zumindest ein schöner Weihnachtswunsch - und dann mit Programm.