Das Problem wird den Kursteilnehmern gleich zu Beginn deutlich vor Augen geführt: "Natur ist nicht nur komplizierter als wir denken, sie ist komplizierter, als wir denken können." Dieser Satz des US-amerikanischen Biologen Frank Edwin Egler (1911-1996) beschreibt ziemlich genau, vor welches Dilemma die Ausbreitung des Wolfes Jäger, Tierhalter und Politiker in Deutschland stellt. Es kursieren viele Vorurteile und Mythen über den Wolf. Doch die Datenlage ist ziemlich dünn und teilweise widersprüchlich.
Die 50 Jägerinnen und Jäger der "Qualifizierungs-Schulung Wolf " wollen es ganz genau wissen. Einen ganzen Sonntag und den halben Montag lernen sie im Vereinsheim der Schweinfurter Schützengesellschaft, wie diese Tiere leben und wie man ihre Population genauer bestimmen kann.
Die Landesjagdschule des Bayerischen Jagdverbands (BJV) bietet diese Kurse für seine Mitglieder kostenlos an. Bis zu 1000 Waidmänner und -frauen im Freistaat sollen bis Ende des Jahres im Wolfsmanagement geschult werden.
Riesiges Freiluftexperiment
Das ist auch dringend notwendig. Denn das Wissen der Jägerschaft über den zurückgekehrten Spitzenprädator, der an der Spitze der Nahrungskette steht, ist eher bescheiden. Zu lange hatte man sich mit der in Deutschland schon Mitte des 19. Jahrhunderts ausgerotteten Art kaum beschäftigt.
Kursleiter Michael Ohlhoff erklärt die Situation: "Wir sind mitten im größten Freiluftexperiment der Welt. Noch nie waren so viele Wölfe und Menschen an einem Ort."
"Jäger spielen nur eine Nebenrolle"
Ohlhoff spricht klar aus, was sein Publikum insgeheim ahnte: "Sie haben sich die Kompetenz für das Thema Wolf von Naturschützern aus der Hand nehmen lassen." Bei Hirsch, Reh, Wildschwein oder Fuchs werde das Fachwissen der Jäger sehr geschätzt. Doch im erbitterten Streit zwischen Naturschützern , Tierhaltern und Politik spielten die Grünröcke nur eine Nebenrolle.
Experten wie Michael Ohlhoff sind bundesweit hoch gefragt. Der 60-jährige Jäger und Falkner ist im Auftrag des niedersächsischen Umweltministeriums in mehreren norddeutschen Landkreisen als Wolfsberater unterwegs. Außerdem ist er Mitglied in mehreren deutschen und europäischen Arbeitsgruppen und Foren zu diesem Thema.
Jährliche Vermehrung 30 Prozent
Ohlhoff weiß genau, wovon er spricht. In seinem Bundesland Niedersachsen ist die Wolfsproblematik schon seit Jahren weitaus dramatischer als in Bayern. 55 Rudel mit bis zu 600 Tieren wurden dort 2023 gezählt. Bei einer durchschnittlichen Vermehrungsrate von jährlich etwa 30 Prozent dürfte die Population mittlerweile erheblich angewachsen sein.
Der Experte aus Norddeutschland liefert beeindruckende Fakten: Bis zu 16 Kilometer weit ist das Wolfsgeheul in freiem Feld zu hören. Selbst aus drei Kilometer Entfernung können die Tiere in einem Kubikmeter Luft noch zwei bis drei Geruchsmoleküle wittern. Und ihre Beißkraft ist doppelt so stark wie die von Schäferhunden.
Der Wolf hat in unseren Breiten keine natürlichen Feinde. Nur Autos und der Mensch können ihm gefährlich werden. Bis zu 1000 Wölfe sterben vermutlich Jahr für Jahr auf bundesdeutschen Straßen. Geschossen wird dagegen so gut wie kein Wolf , zumindest offiziell. Denn von einer Dunkelziffer ungesetzlicher Abschüsse muss ausgegangen werden.
Über die legale Entnahme von Problemwölfen, die Weidetiere reißen, wird erbittert gestritten. Deutschland ist völkerrechtlich an die Berner Konvention und die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie (FFH) gebunden. Dort ist der Wolf als streng geschützte Art gelistet und darf deshalb nicht getötet werden.
Keine Hilfe für verletzten Wolf
Diese strenge Regelung, so weiß Ohlhoff aus eigener Erfahrung, kann auch großes Leid verursachen. Ein Rüde, der in Niedersachsen von einem Auto angefahren und schwer verletzt wurde, durfte nicht erlöst werden. Jäger beobachteten mehrmals das dahinsiechende Tier. Eingreifen durften sie nicht. Erst nach zwei Wochen starb der völlig abgemagerte Wolf. Naturschutz kann manchmal grausam sein.
Experte Michael Ohlhoff erklärt den Jägerinnen und Jägern, die aus ganz Bayern nach Schweinfurt gekommen waren, die Grundlagen zu den faszinierenden Beutegreifern: Ein Wolfsrudel besteht in der Regel aus acht bis zehn Tieren: die Eltern, meist vier Welpen und zwei ältere Nachkommen. Zwischen zwölf und 22 Monate werden die Jungtiere geduldet, dann müssen sie das Rudel verlassen.
Die Trennung vom Rudel stellt die jungen Wölfe vor existenzielle Probleme. Sie müssen sich ein neues Territorium und einen Partner suchen, um ein neues Rudel zu gründen. Das ist nicht einfach, denn ein residentes Rudel beansprucht ein Gebiet zwischen 100 und 250 Quadratkilometern. Nicht selten endet die Wanderung durch ein fremdes Revier für die Jungwölfe tödlich. Beim Kampf um Territorien können sogar ganze Rudel getötet werden. Das klingt brutal, ist aber für die Wölfe überlebenswichtig: "Ohne Territorium gibt es keinen Nachwuchs", erklärt Ohlhoff.
Obergrenze 8000 Tiere?
Die erbitterte Verteidigung ihres Territoriums sowie das vorhandene Nahrungsangebot begrenzen die Wolfspopulation auf natürliche Weise. Laut Ohlhoff zeigen Simulationen, dass in Deutschland etwa 8000 Wölfe leben können. Aktuell dürften es 1800 bis 3300 sein. Die genaue Zahl kennt niemand. Deshalb macht der Sechzigjährige den Kursteilnehmern klar: "Der Wolf ist auch schon in euren Revieren, ihr habt ihn nur noch nicht entdeckt."
"Wir brauchen Daten, Daten, Daten!", appelliert der Wolfsexperte eindringlich. Dabei sollen die Anwesenden helfen. Das sogenannte Wolfsmonitoring sei vor allem für die Halter von Weidetieren wichtig. Nur wer weiß, wo die Rudel leben, kann geeignete Maßnahmen zum Schutz der Herden treffen.
Halsband mit GPS-Sender
Die sogenannte Besenderung von Wölfen könnte laut Ohlhoff helfen, das Bewegungsprofil der Beutegreifer besser zu verstehen. Er gibt einige Halsbänder mit GPS-Sendern in die Runde. Die Reaktion ist eher verhalten. Wer will schon freiwillig einem lebenden Wolf ein Halsband umhängen? Vorher müssen die Tiere natürlich betäubt werden, sagt Ohlhoff. Demobilisierung heißt der Fachbegriff dafür.
Tierarzt Dr. Matthias Schwarz erklärt den Jägerinnen und Jägern am folgenden Vormittag die Grundlagen. Per Narkosegewehr soll das Betäubungsmittel injiziert werden. Jeder Teilnehmer lernt in der Praxis, wie ein Narkosepfeil vorbereitet wird. Die Übung ist aber eher theoretisch. Denn die Abgabe der Betäubungsmittel unterliegt in Deutschland sehr strengen Regeln. Und bei der Betäubung mit einem solchen Pfeil muss ein Tierarzt vor Ort sein.
Dass die Waidleute in ihrem Revier Wölfe wirklich besendern, ist daher fraglich. Auf kurze Strecken - zehn bis 15 Meter - kann der Pfeil auch mit einem Blasrohr in Richtung Wolf geschossen werden, erfahren die staunenden Jäger.
Übungen mit dem Blasrohr
Die praktische Übung ist Pflicht, sonst gibt es von der Landesjagdschule keine Bestätigung über die Kursteilnahme. Auf einem Stand des gastgebenden Schützenvereins blasen die Jäger aus dem ungewohnten Gerät Pfeile auf eine Scheibe. Die Trefferquote ist marginal. Einen richtigen Wolf in freier Natur hätte wohl niemand getroffen.
Was die Jäger mit ihrer frisch erworbenen Urkunde anfangen können, ist noch nicht genau geregelt. Einen Problemwolf im eigenen Revier schießen dürfen die Teilnehmer nach eineinhalb Tagen Schulung nicht. Das will vermutlich auch keiner. Denn die Furcht vor persönlichen Anfeindungen nach einer sogenannten Wolfsentnahme sitzt tief. Der Kursus ist aber Grundlage für weiterführende Schulungen in Sachen Wolfsmanagement. Denn Experten sind rar und das Wissen soll möglichst flächendeckend in die Reviere vor Ort getragen werden.
"Maßnahmengruppe Wolf"
Bayerns Umweltminister Thorsten Glauber hat im Juni dieses Jahres in Absprache mit dem Jagd- und Bauernverband sowie weiteren Verbänden des Freistaats eine Vereinbarung zur Gründung der "Maßnahmengruppe Wolf " unterzeichnet. Diese speziell geschulte Taskforce soll bayernweit aktiv werden, wenn die Genehmigung zum Abschuss eines Problemwolfs vorliegt. Aus Sorge vor Anfeindungen wird die Identität aller Beteiligten der "Maßnahmengruppe Wolf" streng geheim bleiben.
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