
Remigration ist das Unwort des Jahres 2023 . Es wurde von der Jury als "rechter Kampfbegriff" und "beschönigende Tarnvokabel" eingestuft, der Rechtsextremen dazu diene, Forderungen nach Zwangsausweisungen und Deportationen zu verschleiern und zu beschönigen.
Auslöser war der Bericht des Medienhauses "Correctiv" über eine vertrauliche Zusammenkunft von einflussreichen AfD-Politikern, Wirtschaftsvertretern und Neonazis , bei der die mutmaßliche Vertreibung von Millionen Menschen aus Deutschland im Mittelpunkt gestanden haben soll.
Vertreibung nach Afrika?
Präsentiert wurde demnach ein Konzept, das langfristig darauf abziele, nach einer möglichen Regierungsübernahme der AfD Menschen - mit deutschem Pass - aus dem Land zu vertreiben. Der Plan sehe vor, maßgeschneiderte Gesetze zu erlassen, um zunächst Geflüchtete, dann deutsche Staatsbürger mit Migrationshintergrund und sogar unliebsame Deutsche, die sich beispielsweise für Flüchtlinge engagieren, aus dem Land zu entfernen – etwa in einen Musterstaat in Nordafrika.
Die Absicht, Millionen Menschen aus Deutschland vertreiben zu wollen, hat viele Menschen alarmiert. In mehreren deutschen Städten versammelten sich Hunderttausende Bürgerinnen und Bürger, um gegen Rechtsextremismus zu protestieren.
"Hitler hat auch erst keiner ernstgenommen."
Was macht so eine Ankündigung Betroffenen? „Da fällt dir alles aus dem Gesicht“, reagiert eine Frau (Name der Redaktion bekannt) entsetzt auf diese Entwicklung. „Wehret den Anfängen. Hitler hat auch erst keiner ernstgenommen. “ Ihre Großeltern waren Vertriebene aus Schlesien, sie fragt sich, ob sie denn auch betroffen wäre.
„Und wir hatten hier bei uns im Ort über 30 Prozent AfD-Wähler beim letzten Mal. Die glauben doch noch immer, diese Partei würde sich wohlwollend um sie und ihre Anliegen kümmern.“
Pettinella: "Pervertierte Ideologie"
Stefano Pettinella aus Bad Brückenau wusste zunächst gar nicht, wie er auf die Pläner der Rechten reagieren sollte. Er ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Sein Vater kam vor rund 60 Jahren der Liebe wegen aus Italien ins Land und auch, um hier zu studieren.
„Ich finde es erschütternd, dass das Undenkbare und Unsagbare von bestimmten Gruppen plötzlich ausgesprochen wird. Und es ist erschreckend, dass eine pervertierte Ideologie zur Norm gemacht werden soll“, sagt er.
Er sei aber zuversichtlich, dass die schweigende Mehrheit jetzt nicht mehr dazu schweige. Das zeige der jüngste Protest, der auf die Straße getragen wurde.
Für die Menschlichkeit
„Es ist für uns wichtig, dass unsere Mitbürger zeigen, dass sie gegen Rechts sind“, sagt Amer Al Hakawati, Vorsitzender des Kissinger Begegnungszentrums der Kulturen e.V.. Die Mehrheit der Menschen in Deutschland seien nicht fremdenfeindlich und vertreten demokratische Positionen.
Er findet es wichtig, dass dies jetzt – wie am Wochenende in vielen Städte geschehen – auch offen gezeigt wird. „Viele stehen auf der menschlichen Seite. Für die Menschlichkeit ist das wichtig“, meint der aus Syrien stammende Al Hakawati.
Zeichen setzen ist wichtig
„Das ist eine schlimme Sache“, sagt Ana Maria Benevides Werner, Vorsitzende des Kissinger Integrationsbeirats, „die einzige Lösung ist, dass die Bevölkerung aufsteht und sagt: Jetzt reicht’s!“
Einerseits fühle sie sich als gebürtige Brasilianerin angegriffen, „aber andererseits gibt es hier Gott sei Dank noch eine freie Presse, die aufklärt. Ich bin sehr froh, dass so viele Menschen am Wochenende gegen rechts demonstriert haben.“
Im Grunde seien die Pläne der Rechtsextremen lächerlich, denn jeder, der nach Deutschland geflüchtete Eltern oder Großeltern habe, müsse dann weg: „Wer bleibt da noch übrig?“
Benevides Werner: "Die Mitte der Gesellschaft "ist stark genug."
Sorgen um die Demokratie in Deutschland macht sich Ana Maria Benevides Werner, die bereits seit 38 Jahren hier lebt, nicht: „Ich habe keine Angst, ich denke, die Mitte der Gesellschaft ist stark genug, dass die Geschichte nicht wieder passiert. Aber es ist wichtig, aufzustehen und ein Zeichen zu setzen.“
Ein Verbot der AfD hält die Integrationsbeauftragte nicht für sinnvoll: „Dann kommt eine neue rechte Partei. Man muss sie eher mit der richtigen Strategie bekämpfen.“
Viel Unsicherheit unter Flüchtlingen
Funda Ersindigil ist in Deutschland geboren. Ihr Großvater ist als Gastarbeiter aus der Türkei hergekommen. „Ich habe Rassismus in der Schule erlebt, das war nicht einfach“, sagt die 53-Jährige, die sich ehrenamtlich für Integration und Flüchtlinge in Bad Kissingen engagiert.
„Mir ist ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen, als ich von diesem Geheimplan gehört habe. Es ist eine Unverschämtheit, wie darin mit Menschen, die über Jahrzehnte Deutschland mit aufgebaut haben, umgegangen wird“, findet Funda Ersindigil. „Aber mein Herz sagt mir: Die meisten der Deutschen denkt nicht so.“
Sie selbst habe keine Angst vor der AfD, aber sie kenne viele Flüchtlinge, die verunsichert und tief enttäuscht sind: „Sie befürchten, dass sie hier nicht leben können.“ Nach Meinung von Funda Ersindigil sollte die Politik die Migranten besser integrieren und an die Hand nehmen, damit sie arbeiten können. „Das können nicht alles die Ehrenamtliche machen.“ Die derzeitigen Demonstrationen gegen rechts machen ihr Mut.
Vertrauen in Deutschland
„Ich bin sowas von einem Migranten“, sagt Arpad Grec schmunzelnd. Der Chefarzt für Psychosomatik an der Hescuro Klinik in Bad Bocklet wurde im ehemaligen Jugoslawien geboren, ist als Gastarbeiterkind nach Deutschland gekommen und dann als Erwachsener nach Schweden emigriert. Vor zwei Jahren kam er nach Bad Bocklet.
„Insofern fühle ich mich schon von dieser Konferenz der Rechtsextremen angesprochen. Aber emotional fühle ich mich überhaupt nicht betroffen, denn ich habe nicht das Gefühl, dass die Demokratie in Deutschland gefährdet ist.“
"Ich rege mich über die Dummheit der Menschen auf"
Extremisten habe es immer gegeben. „Ich rege mich über die Dummheit der Menschen, die dort teilgenommen haben, auf, aber Deutschland hat schon schlimmere Krisen überstanden.“
Die Politik müsse nun reagieren, indem sie Protestwählern zuhört und mit ihnen in den Dialog tritt: „Denn ihre Befürchtungen sind ja angesichts von Inflation und politischen Entscheidungen, die nach zwei Tagen schon wieder zurückgenommen werden, nicht unbegründet.“ Arpad Grec hat Vertrauen in Deutschland, „sonst wäre ich nicht zurückgekehrt.“
Globalisierung ist nicht rückgängig zu machen
Fassungslos ist Sarah Wagner: „Ich habe mich schon gefragt, wohin ich deportiert werde. Ich habe zwar keinen direkten Migrationshintergrund, aber meine Familie kommt aus aller Welt. Meine Großmutter ist Vertriebene aus dem Sudetenland, ihre Vorfahren kommen aus Ungarn, Österreich und Tschechien, mein Großvater ist Amerikaner mit Wurzeln in England, Schottland, Irland und den USA. Komme ich nach Amerika, muss die k.u.k. Monarchie wieder errichtet werden oder geht es gleich nach Afrika? Im Ernst, es doch ein Irrsinn, ein reines Volk Deutscher kreieren zu wollen, das ging doch schon einmal gründlich schief und wohin Inzucht führt, ist auch bekannt. Die Globalisierung ist nicht rückgängig zu machen und schon gar nicht über Deportationen. Ich kann und will mir nicht vorstellen, dass so etwas Wirklichkeit werden könnte.“
Die 29-Jährige ist im vierten Monat schwanger und macht sich über die Zukunft viele Gedanken. „Ich habe mich kurz gefragt, wie egoistisch es von uns ist, ein Kind in so eine Welt zu setzen. Aber es braucht immer wieder neue Generationen, die die Chance bekommen, es besser zu machen. Gebildete, kritische und solidarische Menschen.“
Dass am Wochenende in so vielen Städten in Deutschland so viele Menschen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus auf die Straße gingen, ist für sie mutmachend.