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Bad Kissingen
Krippe: Das sagen Experten
In die Krippe oder nicht - und vor allem wann? Vorige Woche berichteten wir über zwei Erzieherinnen vom Kinderhaus Waldfenster und ihre Kritik, zu frühe Krippenbetreuung könne Kindern schaden. Viele Leserinnen und Leser haben uns daraufhin ihre Meinung geschrieben. Heute kommen zwei weitere Expertinnen zu Wort.
Prof. Dr. Roswitha Sommer-Himmel        Foto: EVHN       -  Prof. Dr. Roswitha Sommer-Himmel        Foto: EVHN
| Prof. Dr. Roswitha Sommer-Himmel Foto: EVHN
Charlotte Wittnebel-Schmitz
 |  aktualisiert: 17.08.2022 13:20 Uhr

Prof . Dr. Roswitha Sommer-Himmel lehrt an der Evangelischen Hochschule Nürnberg. Sie sagt: "Eltern haben gerne Regeln, nach denen sie sich richten können." Niemand könne aber pauschal ein bestimmtes Alter festlegen, ab denn ein Kind fit für die Krippe sei. Das sei je nach Kind unterschiedlich. Wichtig sei es, aufs eigene Gefühl zu vertrauen und das Verhalten des Kindes gemeinsam mit dem Betreuungspersonal genau zu beobachten.

Sommer-Himmel hat die Professur für Pädagogik mit dem Schwerpunkt frühe Kindheit inne und leitet das Kompetenzzentrum Pädagogik und Entwicklung in der Kindheit. Sie sagt: Man könne nicht daraus schließen, wenn ein einjähriges Kind nicht mehr nach der Mutter weine, habe es sich gut eingewöhnt. Denn es könne auch bedeuten, dass das Kind aufgegeben habe, nach der Mutter zu fragen. Im Gegenteil: Wenn ein Kind weine, weil Mutter oder Vater nicht da seien, sei das ein Geschenk. "Es bedeutet, du bist mir wichtig."

Wie wacht das Kind auf?

Sommer-Himmel weist auf mögliche Unterschiede hin, die sich zeigten, wenn ein einjähriges Kind zuhause oder in der Krippe aufwache. "Zuhause brabbelt das Kind, will aus dem Bett genommen werden, die Welt entdecken. In der Krippe dagegen liegt es still da und wartet." Bindungstheoretiker würden das so interpretieren: "Das Kind ist frustriert oder das Kind hat gelernt, hier muss ich warten."

Ein Problem: Stille Kinder fielen oft nicht auf. Das bedeute aber nicht, dass das Kind nicht gestresst sei. Belege lieferten Wiener Wissenschaftler. Bei einer Kinderkrippen-Studie maßen sie bei Kindern während der Eingewöhnungszeit das Hormon Cortisol. Das Ergebnis: "Die Kinder hatten teilweise Stresswerte wie ein Manager mit einer 60-Stunden-Woche."

Beteiligt sich das Kind lustvoll am Alltag?

Roswitha Sommer-Himmel betont, sie sei keine Krippengegnerin. Aber sie appelliert: "Wir müssen ganz genau hinsehen." Beteiligt sich das Kind lustvoll am Alltag? Gute Zeichen seien: "Das Kind kommt strahlend in die Krippe, es freut sich über ein Lächeln und über Angebote von anderen Personen. Es geht zu der Erzieherin , wenn es Sorgen hat."

Eingewöhnung kann auch nicht gelingen

Die Professorin findet es gut, wenn Fachkräfte den Mut hätten, sich öffentlich über Schwierigkeiten zu äußern. Sie sagt: "Der fairste Satz, den Erzieherinnen zu Eltern sagen können, ist: Wir können versuchen, Ihr Kind einzugewöhnen. Aber Sie müssen bedenken, dass das auch nicht gelingen kann." Denn es komme auf das Kind an, ob es diesen Schritt auch schon schaffen könne.

Betreuungsschlüssel

Eine zentrale Rolle spiele der Betreuungsschlüssel. Leider gebe dieser nicht die unmittelbare Zeit der Fachkräfte mit den Kindern an, sondern er sei nur eine rechnerische Größe. Eine Fachkraft habe zusätzlich Elterngespräche, Teamsitzungen und Fortbildungen. Auch Urlaub. Dadurch kämen zwar rechnerisch stimmige Betreuungszahlen zustande. Die Praxis sehe aber anders aus.

Voraussetzungen für eine gelungene Eingewöhnung

Damit die Eingewöhnung klappe, müsse eine primäre Bindung zu engsten Bezugspersonen aufgebaut sein. Das seien in der Regel: Mutter, Vater, Geschwister oder ganz nahe Personen, auf die ein Baby immer zurückgreifen könne, wenn es Unterstützung brauche. Es lerne dann: Meine Gefühle und Bedürfnisse werden gesehen, gehört und sind in Ordnung.

Die Eingewöhnung müsse feinfühlig begleitet werden. Erst wenn das Kind gelernt habe, den neuen Erwachsenen und den Kindern zu vertrauen, und sich außerdem sicher fühle, werde es anfangen, seine neue Krippe zu erkunden und Kontakt aufzunehmen.

Personalmangel und Qualifizierung für die Krippenbetreuung

Problematisch sei, dass es oft gar nicht genug hochqualifiziertes Personal gebe, das die genauen Schritte begleiten könnte und so dem Kind das gäbe, was es brauche. Die Eingewöhnung könne Wochen, teils Monate dauern. Die Professorin rät Eltern und Erziehern , Kinder zu filmen, um dann über das beobachtete Verhalten zu sprechen. So lerne man auch Rituale und Trostverhalten kennen. Außerdem gebe es für das Personal sehr gute Weiterbildungsfilme, die sich innerhalb weniger Stunden anschauen ließen. Anhand dieser Filme ließe sich die Beobachtungsfähigkeit noch weiter sensibilisieren. Damit habe sie sehr gute Erfahrungen gemacht.

Zu kurz gegriffen: Kinder länger bei den Eltern

Prof . Dr. Sabina Schutter leitet den Studiengang Pädagogik der Kindheit an der technischen Hochschule Rosenheim . Sie sagt: " Kinder kommen früher in die Krippe." Eine Entwicklung mit Vor- und Nachteilen. Deshalb müssten die Rahmenbedingungen und die Qualität der Einrichtungen in den Blick genommen werden. Die Forderung an die Eltern könne nicht lauten, "nehmt eure Kinder länger zu euch. Das ist zu kurz gegriffen, denn es blendet gesellschaftliche Entwicklungen aus".

Forschung

Was sagt die aktuelle Forschung? "Es gibt ein Erkenntnisdefizit." Es fehle an aktuellen Erkenntnissen, wie die qualitative Betreuungssituation derzeit sei. Die letzte breit angelegte Studie sei die Nubbek-Studie, die 2012 veröffentlicht wurde. Studien aus anderen Ländern ließen sich nur eingeschränkt auf Deutschland übertragen.

Belastbare Erkenntnissen fehlen

Das Fehlen repräsentativer bundesweiter empirischer Studien zum Wohlbefinden von Kindern ziehe sich durch alle Altersstufen und betreffe somit auch das Wissen darüber, wie Schulkinder ihren Alltag erleben. Trotz mangelnder Forschungserkenntnisse werde auf politischer Ebene über viele Änderungen im Bereich Erziehung und Bildung entschieden.

Schutter verweist auf einen Beitrag von Prof . Dr. Yvonne Anders, Inhaberin des Lehrstuhls für Frühkindliche Bildung und Erziehung an der Universität in Bamberg. Anders schreibt: Es gibt bis dato keine eindeutigen Belege dafür, dass institutionelle Betreuung in den ersten drei Lebensjahren schädlich für die kindliche Entwicklung sei. Und weiter: Die Mehrheit der Studien zeige positive Einflüsse, wenn ein Kind früh institutionell betreut werde. Dies gelte etwa für die kognitiv-sprachliche Entwicklung. Hinsichtlich der sozio-emotionalen Entwicklung lasse sich feststellen, dass die frühkindliche, institutionelle Bildung und Betreuung keine grundsätzlichen negativen Auswirkungen habe.

Vernünftiger Personalschlüssel

Wichtig seien bundesweit einheitliche Qualitätsstandards und ein vernünftiger Personalschlüssel, sagt Schutter. Dieser sei je nach Alter des Kindes bei eins zu drei bzw. eins zu fünf, auch die Größe der Gruppen sei zu beachten. Wenn Erzieherinnen feststellten, sie seien personell zu wenig, müsse dies an den Träger der Einrichtung herangetragen werden.

Auch bei der Erziehungspartnerschaft von Eltern und Erzieherinnen sieht Schutter Aufholbedarf. Gespräche sollten auf Augenhöhe stattfinden und den Fokus auf Potenziale des Kindes legen, nicht auf Defizite. Professionelles Agieren sei gefordert. "Es geht nicht darum, das Handeln der Eltern zu bewerten." Die Eltern sollten ihr Kind in die Betreuung bringen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.

Auch zuhause nicht lehrbuchartig

Man könne auch zuhause nicht sicherstellen, dass Eltern immer alle Bedürfnisse des Kindes lehrbuchartig erfüllten. Auch Eltern seien nur Menschen. Es komme vor, dass sie ihre Kinder ab und an enttäuschen. Das gehöre dazu: "Das Leben besteht auch aus Enttäuschungen."

Der Artikel von vergangener Woche: https://www.infranken.de/lk/bad-kissingen/krippe-eine-gefahr-fuer-kinderseelen-art-5105781

 
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