Einträchtig und gut gelaunt staksen Senioren durch das Kneippbecken am Gradierbau in Bad Kissingen . Ein Bild, das Larisa Kisliak Freude bereitet. Weil es etwas für sie sehr Wichtiges zeigt: "Das ist Frieden", sagt sie. Die 35-jährige Ukrainerin sorgt sich um ihre Lieben in einer aus den Fugen geratenen kriegerischen Welt: Ihr Bruder Maxim liegt als Soldat an vorderster Front in der Ostukraine; ihre Schwester Tanja versucht, das durch den russischen Angriff entstandene Leid zu lindern. Dennoch versprüht Larisa Zuversicht.
Kisliak wurde in der heutigen Republik Moldau geboren, als diese noch winziger Teil der riesigen Sowjetunion war. Ihre Eltern stammten aus der westlichen Ukraine, wohin es die Familie wieder zog; Larisa war zwölf Jahre alt. Danach lebte sie abwechselnd in Iwano-Frankiwsk in der Westukraine und in Odessa, später nur noch in der Stadt am Schwarzen Meer.
Nie wäre sie in ihrer Kindheit und Jugend darauf gekommen, dass es Unterschiede zwischen Ukrainern und Russen gibt, sagt sie. Und dass beide Länder einmal Krieg gegeneinander führen würden. Dieses Bewusstsein kam später und drang so richtig durch mit den Protesten auf dem Maidan und der Annexion der Halbinsel Krim durch den großen Nachbarn 2014.
Keine Infos über Erlebnisse an der Front
Seit 2018 lebt Kisliak zeitweise in Deutschland, studierte, absolvierte Praktika, arbeitete, meist im Norden, aber auch in der Franz-von-Prümmer-Klinik in Bad Brückenau. Im November 2021 heiratete sie einen Deutschen; seit drei Monaten schafft die Ärztin in der Helios OrthoClinic in Hammelburg, manchmal auch in Bad Kissingen .
Noch zu Beginn des Jahres wollte die 35-Jährige ihren Bruder als Koch nach Deutschland holen. Dann brach der Krieg über die Ukraine herein; Maxim meldete sich zur ukrainischen Armee.
Seitdem hat Larisa ihren jüngeren Bruder nicht mehr persönlich gesehen. Was sie ständig begleitet, ist die Sorge, dass ihm etwas zustoßen könnte. Täglich müht sie sich, etwas von ihm zu hören, und wenn es nur ein "Mir geht es gut" ist. Zumal Maxim derzeit bei Bachmut in der Ostukraine in der vordersten Frontlinie liegt. Dort, wo mit Handfeuerwaffen direkt aufeinander geschossen wird.
In den vergangenen beiden Tagen war der Kontakt per Handy etwas leichter. Maxim lag mit Gehirnerschütterung in einem Krankenhaus hinter der Front. In einem richtigen Bett, was nicht selbstverständlich ist. Doch nun muss er wieder nach vorn.
Über Details von der Front oder Gräuel, die er erlebt hat, berichtet der Bruder nicht. Er mag einfach nicht darüber sprechen, sagt seine Schwester . Aber sie weiß: "Mein Bruder hat Dinge gesehen, die man sich im Traum nicht vorstellen kann."
Einen gewissen Eindruck, was das bedeutet, hat Larisa Kisliak. Vor Monaten begegnete sie in einem Nürnberger Krankenhaus einem ukrainischen Soldaten, der im Herbst in der Donbas-Region gekämpft hatte. Es sei der schlimmste Oktober seines Lebens gewesen, habe der Militärangehörige erzählt. Seine Einheit sei fast komplett vernichtet worden. Von 100 Kameraden hätten nur drei überlebt, inklusive ihm.
Die Menschen im Rest Europas vergessen meist, dass schon vor dem 24. Februar in der Ukraine Krieg herrschte, sagt Larisa Kisliak. Und dass ihr Volk um seine Freiheit und Unabhängigkeit kämpft.
Eine halbe Stunde später Dorf zerstört
Dazu gehört auch die Aufgabe, die Larisas Schwester Tatjana, kurz Tanja, übernommen hat. Die 39-Jährige lebt in Lwiw, dem früheren Lemberg, in der Westukraine. Obwohl es leichter als mit dem Bruder wäre, steht die Bad Kissinger Ärztin mit ihrer Schwester nicht in so engem Kontakt. Diese fährt viel im Land umher, ist danach oft sehr müde.
Denn Tanja bringt einerseits Hilfsgüter an die Front oder an andere Orte, wo sie benötigt werden. Andererseits bringt sie Menschen und Tiere aus Kriegsgebieten in Sicherheit. Was sich auch als ziemlich gefährlich erweisen kann.
Einmal wollte ihre Schwester einen Mann und ein Pferd in der "grauen Zone" abholen. Das ist der Bereich zwischen den Fronten, den keine der beiden Armeen gerade kontrolliert. Der Mann machte keine Anstalten zu gehen, trotz dringlichen Zuredens. So musste die 37-Jährige ihn und das Pferd zurücklassen.
Später erfuhr sie, dass die Russen das Dorf eine halbe Stunde später zerstört hatten. Von Mann und Pferd hörte sie nie wieder etwas.
Und noch ein anderes Erlebnis hat sich nach Angaben ihrer Schwester in Tatjanas Gehirn eingebrannt. In einer Klinik in Lwiw traf sie auf eine sechsköpfige Familie. Um die Mutter stand es sehr schlecht. Mit heftigen Wirbelsäulenverletzungen war sie aus Kramatorsk im Osten in Sicherheit gebracht worden.
Wenig später erlag sie ihren schweren Wunden, hinterließ ihren Mann und vier Kinder. Tatjana übernahm die Aufgabe, den Leichnam in die Heimat zu überführen. Etwas, was sie sehr mitnahm.
Dieses Gefühl - es quält derzeit viele Ukrainer, erzählt Larisa Kisliak: Man empfinde viel Mitleid mit Betroffenen, sei traurig, nicht wirklich viel tun zu können. Man werde wütend, fühle sich aber auch erschöpft. Auch Tatjana berichtete wenig von ihren Erlebnissen, wirke oft gestresst. Ihr Freund kämpft bei Cherson im Süden für sein Land.
Als der Krieg ausbrach, wollte Larisa als Ärztin sofort helfen. Auch mithilfe ihres Mannes und seiner Familie sammelte sie medizinische Hilfsgüter. Über ihre Landsfrau und Wahl-Bad-Kissingerin Ganna Kravchenko lernte sie Dirk Stumpe aus Bad Brückenau kennen, der sich im eigens für die Ukrainehilfe gegründeten Verein "Bad Brückenau hilft!" sehr engagiert. Bereits im April ging die 35-Jährige auch als Dolmetscherin mit auf eine Hilfsfahrt an die polnisch-ukrainische Grenze.
Da sich bei einer der weiteren Fahrten herausstellte, dass ein direkter Ansprechpartner fehlte, der die Güter ins Landesinnere bringt, übernahm das fortan Tatjana. Dort übergibt sie die Sachen einer Landsfrau, die sie dorthin verteilt, wo sie gebraucht werden - in den Regionen Cherson, Luhansk oder auch Charkiw.
Gefährliche Fahrt zum Bruder
Vom 28. September bis 7. Oktober hat Larisa Kisliak frei. Sie will die wenigen Tage für ein nicht ganz ungefährliches Abenteuer nutzen. Am 29. September soll es mit dem Verein "Bad Brückenau hilft!" Richtung Osten gehen. "Ich möchte mir das Dorf bei Iwano-Frankiwsk anschauen, in dem meine Großeltern gelebt haben und wo meine Eltern aufgewachsen sind."
Die Ärztin wird Medizin und Verbandsmaterial mit sich führen, aber auch nützliche Dinge für ihren Bruder . Ihn möchte sie besuchen, bei der Gelegenheit die anderen Hilfsgüter "ganz nach vorn" bringen. Für Maxim hat Larisa Schokolade besorgt, wärmende Kleidung. Sie will ihm Sushi organisieren, weil er das so gerne mag. Und sie will ihrem Bruder Maxim eine Flugdrohne kaufen, weil sie hofft, dass er so sein Leben an der Front besser vor russischen Überfällen schützen kann.
Überhaupt wünscht sich Larisa Kisliak, dass es ihren Lieben mindestens bis zu ihrem Besuch weiter gut geht. Obwohl die Russen inzwischen rund 20 Prozent der Ukraine besetzt halten, glaubt sie, dass der Kampf ihres Volkes gut ausgehen wird - und auch der eigene. Doch bis zu ihrem Besuch im Heimatland auf Frieden wie in Deutschland zu hoffen, erscheint zu utopisch.